Um 9.55 Uhr steht Embaba Negash vor der Haustür eines Zürcher Wohnblocks. Fünf Minuten zu früh. Zu spät zu kommen, ist in der Schweiz ein No-Go. Das hat die Arbeitgeberin, die soziale Non-Profit-Organisation Valeriana, der 37-jährigen Eritreerin gleich am ersten Tag eingebläut. Negashs Rucksack ist voller Putzmittel, Wischtücher und Handschuhe. Alles wäre bereit für ihren Einsatz – doch die Wohnungstür ist verschlossen.
Als Nadja Brauer (Name geändert) wenig später die Treppe heraufkommt, begrüssen sich die beiden wie alte Freundinnen. «Hey Embaba, wie waren deine Ferien?», fragt sie und schliesst die Wohnungstür auf. Seit einem Jahr putzt Negash jede zweite Woche Brauers Altbauwohnung. «Meine Frauenärztin empfahl mir, während der Schwangerschaft nicht mehr zu putzen. Ich suchte nach einer sozialen Reinigungsfirma und stiess auf Valeriana», sagt die junge Frau. Sie sei zufrieden und setzte sicher noch bis Ende des Jahres auf die Unterstützung. Damit ist sie nicht alleine: Etwa 13 Prozent der Schweizer Bevölkerung beschäftigt eine Reinigungskraft. Unterdessen hat Negash begonnen, alle Fenster der Dreieinhalbzimmerwohnung zu öffnen – ganz nach Lehrbuch.
Hauptsächlich putzen Migrantinnen
Drei Tage, bevor ich Embaba Negash kennenlerne, lädt mich die Reinigungsfirma Valeriana zu einem Crashkurs ein, wie ihn auch Mitarbeitende absolvieren. Damit ich Negash mit meinen Fragen nicht ausbremse und sie länger als sonst arbeiten muss, helfe ich bei der Reinigung mit. Vor mir auf einem Tisch liegen drei Flaschen, Dutzende farbige Putzlappen und eine Checkliste. Erster Punkt auf der Liste: Wohnung lüften. Alle Aufgaben sind in einfachem Deutsch verfasst, zusammengesetzte Wörter werden gekoppelt, zum Beispiel: «Ober-fläche reinigen» oder «Abfall-eimer leeren».
«Die Frauen und Männer, die bei uns anfangen, sprechen meist noch nicht gut Deutsch. Unser Ziel ist aber, dass sie schnell Fortschritte machen und sich integrieren», sagt die Instruktorin und Social-Community-Managerin Amila Basic. Der Grossteil der rund 200 000 Personen in der hiesigen Reinigungsbranche sind Migrantinnen, die selten Kontakt zu Schweizerinnen und Schweizern haben.
Den Rücken schonen
Nadja Brauer ist unterdessen in ihren Garten gegangen. Im Wohnzimmer entstaubt Negash zwei Gitarren, die an der Wand hängen. «Ich hoffe, sie spielen die auch hin und wieder», witzelt sie, faltet ihren blauen Putzlappen neu und wischt mit der sauberen Fläche über einen Tisch. Diese Falttechnik ist laut Valeriana-Mitgründer Bora Polat «lebensverändernd». «Wir falten die Mikrofasertücher viermal, so sind sie in acht Flächen unterteilt, womit wir die Tücher bestmöglich nutzen», erklärte mir Instruktorin Basic. Die Putzlappen haben vier verschiedene Farben, die für ihren Anwendungsort stehen: Blau für alle Oberflächen in Wohn- sowie Schlafzimmer, Gelb für Badezimmer, Grün für die Küche und Rosa für die WC-Schüssel. «Wenn du das blaue Tuch in der Küche verwendest, haut dir Embaba auf die Finger», warnte mich Basic. Durch die strikte Trennung sollen Bakterien nicht vermischt werden.
Nachdem Negash und ich die Küche mit dem grünen Lappen geputzt haben – an der richtigen Falttechnik bin ich gescheitert –, beginne ich zu staubsaugen. Einen Moment lang schaut sie mir zu und unterbricht mich dann: «Versuche, dich beim Staubsaugen nicht zu bücken, das tut deinem Rücken nicht gut.» Auch beim Badewanne reinigen sollte man sich nicht zu sehr bücken. Ich frage sie nach weiteren Tipps. «Ich bin ein grosser Fan von Akku-Staubsaugern. Man kann sich nicht im Kabel verheddern und kommt besser an schwer erreichbare Stellen heran.
19.60
Im Deutschschweizer Gesamtarbeitsvertrag wurde für das Jahr 2022 ein Mindestlohn von Fr. 19.60 definiert. Vollbeschäftigte verdienen so weniger als 3500 Franken im Monat.
5500
In der Schweiz gibt es rund 5500 Reinigungsfirmen und Zehntausende private Arbeitgebende in diesem Bereich.
200 000
Über 200 000 Menschen in der Schweiz verdienen mit Putzen ihren Lebensunterhalt. Die meisten sind weiblich mit Migrationshintergrund und arbeiten Teilzeit.
1850
Dass Menschen, überwiegend Frauen, ausserhalb ihres Haushalts putzen, begann mit der Industrialisierung ab 1850. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeiteten immer mehr Südeuropäerinnen in der Reinigungsbranche, während in wohlhabenderen Familien die Hausfrau die Reinigung ihres eigenen Haushalts besorgte.
1990
In den 90er-Jahren setzte ein Boom ein, als viele Banken, Betriebe, Schulen und Verwaltungen die Reinigung an Privatunternehmen auslagerten.
28 Franken Stundenlohn
Wie die allermeisten Reinigungskräfte arbeitet Negash Teilzeit. Der Mindestlohn in der Branche beträgt knapp 20 Franken – wer bei Valeriana eine Reinigung bucht, zahlt jedoch 42 Franken pro Stunde. Davon gehen 28 Franken an Negash und ihre Kolleginnen – inklusive Sozialversicherungen, was zwar gesetzlich vorgeschrieben, aber in der Branche nicht immer der Fall ist. Schätzungen besagen, dass ein Viertel der Reinigungskräfte schwarz arbeitet. Negash sagt, die Sprachkurse bei Valeriana hätten ihr sehr geholfen, die Deutschprüfung mit Niveau A2 zu bestehen. «Meine Muttersprache ist Tigrinya und hat null Ähnlichkeit mit Deutsch. Wir haben sogar eine andere Schrift. Als ich 2018 in die Schweiz kam, musste ich zuerst das Alphabet lernen.»
Mittlerweile hat sie alle Fenster wieder geschlossen und füllt die Checkliste aus. Dann verabschiedet sie sich in die Mittagspause – ihr Mann holt sie mit dem Auto ab. Er kommt ebenfalls aus Eritrea und arbeitet bei einer Kirche als Hauswart. Zweieinhalb Stunden später ist die nächste Wohnung in Oerlikon ZH an der Reihe. Negash kommt dort um 15.25 Uhr an. «Möchtest du einen Kaffee, Embaba?», fragt Seda Alan. Negash lehnt dankend ab und macht ihre Mise en Place mit den Putzutensilien. «Ich war immer gegen eine Putzfrau, ich empfinde das als Eingriff in meine Privatsphäre», sagt Alan. Sie ist mit Valeriana-Gründerin Salomé Fässler befreundet und liess sich von ihr überzeugen.
Traumberuf Köchin
Während sie die Treppen saugt, sagt Negash: «Mein Traum ist es, einmal als Köchin zu arbeiten.» Als Jugendliche habe sie in Eritrea ihrem Vater in der Metzgerei geholfen und wollte Sekretärin werden. Doch sie habe früh geheiratet, sei schwanger geworden und war mit dem Haushalt beschäftigt. Jetzt wolle sie noch besser Deutsch lernen und eine Ausbildung als Köchin beginnen. «Meine Familie übt oft Deutsch mit mir», sagt Negash. Ihr Mann ist sieben Jahre vor der Familie in die Schweiz geflüchtet, und ihre drei Kinder haben in der Schule rasch die Sprache gelernt.
Es hat etwas Meditatives, wie Negash von Raum zu Raum geht, Vasen anhebt, Flecken beseitigt und Ordnung schafft. Wie eine Marathonläuferin hat sie ihren eigenen Rhythmus, den sie von Anfang bis Ende durchzieht. Pünktlich um 17.30 Uhr ist sie mit der Reinigung fertig und versprüht zum Abschluss noch einen Duftspray in allen Zimmern. Seda Alan lobt die Arbeit, «super, wie immer». Negash lächelt und verabschiedet sich, um Abendessen zu kochen.
Fotos: Jorma Müller
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