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Ein Leben im Verborgenen

Text

Rahel Schmucki

Erschienen

21.01.2022

Frau sitzt auf einer Mauer im Park

Seit 21 Jahren lebt und arbeitet Maria ohne Erlaubnis in der Schweiz. Sie ist eine von über 100'000 Sans-Papiers. Wie kam es dazu, und wie überlebt man so?

Maria streicht ihr schwarzes Kleid über ihren Knien glatt und wartet etwas nervös auf das Gespräch. Ihre schwarzen Haare, im Ansatz schon etwas grau, hat sie locker zusammengebunden. Sie sitzt in einer fremden Wohnung, denn ihren eigenen Wohnort darf sie niemandem verraten, auch ihr Name ist eigentlich nicht Maria. Die 64-Jährige aus der Dominikanischen Republik ist eine sogenannte Sans-Papiers (siehe Box) und lebt seit über 21 Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in einer Schweizer Grossstadt. Würde die Polizei von ihrer Existenz erfahren, würde sie sofort ausgeschafft. Beim Gespräch hilft eine Kollegin beim Übersetzen. Maria spricht nur Spanisch.

Maria kam 1997 zum ersten Mal in die Schweiz. Sie war damals 40 Jahre alt und hatte in der Dominikanischen Republik gerade ihre beiden Jobs in einer Näherei und Bäckerei verloren. Eine neue Arbeit konnte sie nicht finden, sie brauchte aber Geld für die Ausbildung ihrer Kinder. Über Bekannte gelangte sie an eine dominikanische Familie, die in der Schweiz wohnte und ihr eine Stelle als Kindermädchen und Haushälterin anbot. Sie organisierten ihr ein Touristenvisum für drei Monate. «Es war ganz einfach, so in die Schweiz zu kommen», erzählt Maria.

«Ich wurde ausgebeutet»

Als diese drei Monate abgelaufen waren, blieb Maria einfach in der Schweiz und arbeitete weiter für die Familie. Sie putzte, bügelte, machte die Einkäufe und war rund um die Uhr für drei kleine Kinder verantwortlich. Dafür bekam sie 600 Franken im Monat und Kost und Logis. Nie gönnte sie sich ein Eis oder eine Tasse Kaffee. Alles, was sie sparen konnte, schickte sie an ihre Kinder in der Dominikanischen Republik. «Die Arbeit war viel anstrengender, als ich mir das vorgestellt hatte. Die Familie beutete mich aus.» Aber weg konnte Maria auch nicht. Sie hatte die Wahl zwischen ganz wenig und gar nichts.

Dann wurde sie krank und immer kränker, fühlte sich erschöpft und hatte immer stärkere Unterleibsschmerzen und Blutungen. Aber als illegale Einwanderin konnte sie nicht zum Arzt. Das ging nur in ihrer Heimat. Sie arbeitete also weiter, sparte jetzt für ein Ticket nach Hause, um sich medizinische Hilfe zu holen. Als sie nach drei Jahren in der Schweiz in die Dominikanische Republik zurückkehrte, lautete die Diagnose: ein fortgeschrittener Tumor in der Gebärmutter. «Das war für mich ein Schock, aber auch eine Erleichterung, dass ich nun Hilfe bekam», sagt Maria.

Während Maria ihre Geschichte erzählt, bleibt sie ganz ruhig. Unterstreicht ihre Worte mit einem rhythmischen Kopfnicken und mit ihren Händen. Die Maske rutscht ihr dabei immer wieder über die Nase, und sie schiebt sie sogleich wieder nach oben.

Sans-Papiers in der Schweiz

In der Schweiz leben schätzungsweise 100'000 Menschen ohne ein Bleiberecht. Das ist mehr als 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die meisten von ihnen kommen aus Lateinamerika und sind in die Schweiz gekommen, um hier zu arbeiten und Geld nachhause zu schicken. Die Mehrheit sind Frauen. Sie arbeiten in Privathaushalten, in der Gastronomie oder in der Sexarbeit. Die Männer auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. 90 Prozent aller Sans-Papiers in der Schweiz sind erwerbstätig, oder waren es zumindest bis vor der Corona-Krise. In der Schweiz gibt es in fast jeder Stadt eine Anlaufstelle für Sans-Papiers. Sie hilft bei juristischen Problemen, sorgt dafür, dass Kinder in die Schule gehen können und organisiert für die Menschen ohne Bleiberecht eine Krankenversicherung.

Weitere Infos unter: sans-papiers.ch

Schwere Entscheidung

Maria wurde wieder gesund, doch die Geldsorgen blieben. Nach zwei Jahren bei ihrer Familie entschied sie sich, wieder zurück in die Schweiz zu gehen. «Das war eine schwere Entscheidung. Ich war sehr glücklich, wieder bei meinen Kindern zu sein. Aber wir brauchten Geld.» Mit einem zweiwöchigen Touristenvisum reiste sie zum zweiten Mal in die Schweiz und verdiente ihr Geld wieder mit Putzen, Kochen und Kinderhüten. Dieses Mal aber bei verschiedenen Arbeitgebern. Die Arbeitsstellen wurden ihr von Bekannten vermittelt, immer unter der Hand, immer illegal. «Wenn es nichts zu tun gab oder ich krank war, gab es kein Geld.»

In ihre Altersvorsorge zahlte niemand ein. «Die Familien hatten Angst, mit der Anstellung einer Sans-Papiers aufzufliegen», sagt Maria. In einem guten Monat verdiente sie 1600 Franken. Davon schickte sie bis zu 700 Franken zu ihrer Familie nach Hause. Sie behielt nur das Geld, das sie für Miete, Krankenversicherung und Essen brauchte.

Nie bei Rot über die Strasse

Das Leben von Maria ist ein Leben in Angst. Sie hat Strategien entwickelt, um nicht aufzufallen. «Ich überquere nie eine Strasse, wenn die Ampel auf Rot steht. Ich bin im öffentlichen Verkehr noch nie schwarzgefahren, und ich meide Orte, an denen viele Leute sind und dadurch auch oft Polizeikontrollen stattfinden.» Und trotzdem kam eine Rückkehr in die Dominikanische Republik für sie nie wirklich infrage, die Familie dort brauchte das Geld. Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: «Und trotz der harten Arbeit und der ständigen Angst vor der Polizei fühle ich mich in der Schweiz wohl. Hier ist mein Zuhause», sagt sie und lächelt ein bisschen verlegen.

Es gab eine Zeit, da schien sich alles zum Guten zu wenden. 2005 lernte sie René, einen Schweizer, kennen, verliebte sich in ihn und er in sie. Sieben Jahre führten sie eine Beziehung, Maria konnte in seiner Wohnung wohnen, und sie planten ihre Hochzeit. «Für mich eine Zeit, in der ich auch ein bisschen unvorsichtiger wurde. Einmal ist mein Abonnement für den öffentlichen Verkehr abgelaufen, und ich habe es nicht gemerkt. Das lag daran, dass ich voller Hoffnung war», erinnert sich Maria. Dann kam nach ihrer Krankheit der nächste Schicksalsschlag: Kurz vor der Hochzeit wurde René überraschend krank, musste in eine Klinik. Zur gleichen Zeit wurde auch Marias Sohn in der Dominikanischen Republik krank. Sie arbeitete mehr, um die Arztrechnungen ihres Sohnes zu bezahlen, und verbrachte die restliche Zeit an Renés Krankenbett.

Frau richtet Pflanzen-Ranken an einem Metal-Pfeiler

Nicht schwarzfahren, nicht bei Rot über die Strasse, Menschenansammlungen meiden – Maria schaut, dass sie unter dem Radar der Polizei bleibt.

Partner, Sohn, Vater – alle sterben

Kurz darauf starb René und mit ihm Marias Hoffnung auf ein geregeltes Leben in der Schweiz. «Ich hatte grosses Glück, dass ich meine Sachen noch aus der gemeinsamen Wohnung holen konnte», erinnert sie sich. Eine Ärztin ahnte wohl, dass Maria illegal in der Schweiz war, und sprach sie darauf an. Sie meldete den Todesfall erst drei Stunden später den Behörden. So hatte Maria ganz kurz Zeit, ihr gesamtes Hab und Gut zusammenzusuchen und wieder unterzutauchen, bevor die Wohnung von den Behörden versiegelt wurde. «In allen schwierigen Situationen gab es immer jemand, der mir geholfen hat. Dafür bin ich sehr dankbar.»

Doch mit dem Tod von René endete die schwierige Zeit für Maria nicht. Noch im selben Jahr starben auch Marias Sohn und ihr Vater – ohne dass sie die beiden vorher nochmals sehen konnte. «Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben.» Eine Freundin nahm sie bei sich auf. Über sechs Monate konnte sie nicht mehr arbeiten, litt an einer Erschöpfungsdepression, nahm Medikamente und war in psychiatrischer Behandlung, die ihr eine Beratungsstelle vermitteln konnte. In dieser Zeit verstärkte sich ihre Angst vor der Polizei zusätzlich – die panische Angst, entdeckt zu werden, ist ihr ständiger Begleiter.

Raus aus der Krise fand sie durch Gott, wie sie sagt. Sie setzte ihre Medikamente ab, fand Anschluss in einer kleinen katholischen Kirchgemeinde und lernte da eine Gruppe Frauen kennen. Alle kommen aus Lateinamerika, alle haben keine Aufenthaltsbewilligung. «Das ist meine neue Familie in der Schweiz geworden, und Gott gibt mir so viel Kraft.» Heute besuchen sie jeden Tag gemeinsam die Kirche, beten und unterstützen sich gegenseitig.»

Die Gemeinschaft hat Maria zur Kämpferin werden lassen – sie kämpft für die Sichtbarkeit von Sans-Papiers in der Schweiz. «Ich bin mutiger geworden und will mich nicht mehr verkriechen», sagt sie und schlägt mit der Hand sanft auf den Tisch, um ihre Worte zu unterstreichen. Und mit ihrem Kampfgeist hat sich auch ihr Blatt gewendet. Sie hat ein Zimmer in einer grösseren Wohngemeinschaft gefunden. «Zum ersten Mal gefällt es mir da, wo ich wohne.»

Eine Möglichkeit gäbe es, wie Maria einen legalen Aufenthaltsstatus bekommen könnte: ein Härtefallgesuch. Dafür braucht man aber Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Maria hat zwar drei Deutschkurse begonnen, diese aber alle abgebrochen. «Das Niveau war für mich zu hoch, ich konnte neben meiner Arbeit zu wenig lernen und habe den Anschluss verloren», sagt sie. Vor Kurzem hat sie aber einen neuen Versuch gestartet und besucht einen Kurs.

Frau steht vor Engelsstatue

In der Kirche fand Maria Kraft – und Freunde: Zusammen mit einer Gruppe von Frauen kämpft sie für die Rechte der Sans-Papiers.

Aufgeben ist schlicht unmöglich

Corona hat die Situation der Sans-Papiers in der Schweiz stark verschlechtert. Viele haben ihre Jobs verloren und überleben nur noch dank Spendenorganisationen und kirchlicher Hilfe. So auch Maria. Heute kann sie nur noch an zwei Tagen putzen, und auch das wird in ihrem Alter nicht einfacher. «Bei einer Anstellung putze ich ein Haus, das drei Stockwerke hat.» Das Treppensteigen fällt ihr immer schwerer. Eine Pensionierung wird es für Maria aber nicht geben. Sie bekommt nur Geld, solange sie arbeiten kann.

Eine Rückkehr zu ihrer Familie kommt für sie dennoch nicht infrage. «Da bekomme ich auch keine Rente, und eine Arbeit finde ich da keine mehr. Und vor Kurzem hatte der Mann meiner Tochter einen Schlaganfall und liegt jetzt im Koma. Sie sind stärker denn je auf mein Geld angewiesen.»

Aufgeben kennt Maria nicht, kann sie nicht, konnte sie nie. «Wenn ich nicht mehr putzen kann, kümmere ich mich halt mehr um Kinder und suche mir Jobs in diesem Bereich.»

«Die Unsichtbaren», von Tanja Polli und Ursula Markus, erschienen im Rotpunktverlag.

Lesetipp: «Die Unsichtbaren»

Maria und 15 weitere Sans-Papiers werden im Buch «Die Unsichtbaren» porträtiert. In verschiedenen Interviews erklären Personen von Fachstellen die Problematik und erzählen, wie man heute in der Schweiz mit Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung umgeht. Das Buch erschien im Oktober 2021 und wurde vom Migros-Kulturprozent unterstützt.


«Die Unsichtbaren», von Tanja Polli und Ursula Markus, erschienen im Rotpunktverlag.
Fr. 34.40 bei exlibris.ch

Fotos: Nik Hunger

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