Jetzt gehe sie erst mal für ein paar Tage auf Skitour, sagt Claire Juchat. Um wieder in ihrem «normalen Leben» an Land anzukommen. Erst am Vortag ist die Walliserin aus Süditalien nach Genf zurückgekehrt. Sechs Wochen dauerte ihr Einsatz an Bord der Ocean Viking. Mit dem ehemaligen Frachtschiff leistet die Organisation SOS Méditerranée auf dem Mittelmeer Seenotrettung.
Juchat war zum sechsten Mal «auf Rotation», wie es im Jargon heisst. «Natürlich wächst die Erfahrung mit jedem Mal, und trotzdem weisst du nie, was dich erwarten wird», erklärt sie. Bei jedem Einsatz sei der Kontext ein anderer. Die politische Situation, das Wetter, die Bedingungen an Bord: «Der Job als Seenotretterin erfordert viel Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.»
Mit schweren Schicksalen leben lernen
Als sie kurz vor Weihnachten das Schiff betrat, wusste Juchat noch nicht, dass sie einige Tage später 113 Personen nahe der lybischen Küste retten würde, die jüngste davon zwei Wochen alt. «Wenn eine Mutter mit ihrem Neugeborenen eine solch gefährliche Reise antritt, dann sagt das doch alles aus über die Ausweglosigkeit ihrer Situation», so Juchat.
«Diese Schicksale, mit denen man konfrontiert ist – das wird nie einfacher. Aber man lernt damit umzugehen.» Als Kommunikationsverantwortliche an Bord gehört der Austausch mit den Geretteten zu ihren Hauptaufgaben. «Wenn über geflüchtete Personen berichtet wird, dann hört oder liest man meist Zahlen. Aber hinter jeder Zahl steht ein Mensch mit einer Geschichte.»
1360 Menschen tot oder vermisst
Mehr als 98'700 Menschen kamen im letzten Jahr als Bootsflüchtlinge in Italien an. Von Nordafrika legen sie in meist seeuntauglichen Booten ab. Immer wieder ertrinken Menschen beim Versuch, über das Meer in die EU zu gelangen. Im zentralen Mittelmeer galten 2022 nach UN-Zahlen mehr als 1.360 Menschen als tot oder vermisst. Im Winter ist die Überfahrt aufgrund der Wetterbedingungen besonders riskant.
«Die Seebedingungen sind rau und es kommen immer wieder Stürme auf», so Juchat. Hinzu kommt ein Kurswechsel der italienischen Regierung, der NGOs die Arbeit erschwert. Anfang Januar trat ein Dekret in Kraft, welches vorsieht, dass Schiffe, die Menschen in Not gerettet haben, sofort einen zugewiesenen Hafen ansteuern müssen.
Lange Fahrten zu zugewiesenen Häfen
«Einerseits ist es gut, dass die Geretteten nicht mehr wochenlang an Bord ausharren müssen, bevor sie an Land gehen dürfen», sagt Juchat. «Andererseits bedeutet es aber auch, dass wir unser Suchgebiet tagelang verlassen müssen und in dieser Zeit keine weiteren Menschen retten können.»
Zugewiesen werden der Ocean Viking nämlich nicht etwa nahe gelegene Häfen in Süditalien, sondern solche ganz im Norden des Landes. Fünf Tage dauert die Fahrt nach Ravenna. Und genauso lange dauert es zurück in das eigentliche Einsatzgebiet der Ocean Viking.
Rettung bei rauer See
Auf dem Schiff gibt es eine Art Alltag: Morgenmeeting um 8.15 Uhr, Abendessen um 17.30 Uhr, dazwischen absolviert die 32-köpfige Crew immer wieder Übungen, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Rund um die Uhr der Blick aufs Meer. «Wir haben spezielle Rettungs- und Ärzteteams, Suchschichten übernehmen aber alle.»
Im Morgengrauen tauchte eines Tages ein überfülltes Schlauchboot auf. 37 Personen wurden gerettet. Zugeteilter Hafen diesmal: Ancona, ebenfalls im Norden. «Wir mussten mit teils sehr vulnerablen Menschen vier Tage lang durch schlechtes Wetter navigieren. Crew, Gerettete – alle wurden seekrank, es war ein Albtraum.» Bis zu sechs Meter hoch waren die Wellen.
Pendeln zwischen Genfersee und Mittelmeer
Mit der in Einfahrt in Ancona endete Juchats Rotation. Die Westschweizerin hat jetzt sechs Wochen Ferien – genauso lange, wie sie an Bord gewesen ist. «Ich brauche diese Zeit, um mich körperlich zu erholen, aber auch um das Erlebte hinter mir zu lassen.»
Seit zwei Jahren pendelt die studierte Entwicklungshelferin zwischen Genfersee und Mittelmeer hin und her. «Meine Arbeit ist wichtig, aber es ist auch wichtig, das Leben in der Schweiz schätzen zu wissen.» Wann genau ihr nächster Einsatz stattfindet, weiss Juchat noch nicht. Nur, dass ein Stück Normalität sie auf jeden Fall wieder begleiten wird: «Vor jeder Rotation kaufe ich Schweizer Schokolade für die ganze Besatzung ein.»
Wieso flüchten Menschen übers Meer?
Um auch Jugendliche und Kinder ab 13 Jahren für die Seenotrettung und die humanitäre Krise im Mittelmeer zu sensibilisieren, führt SOS Méditerranée unter anderem Workshops an Schulen durch.
Wer das Projekt aktiv unterstützen möchte, kann sich als Referent*in bei SOS Méditerranée bewerben oder sich mit seiner Schulklasse für einen Workshop anmelden. Die Workshops werden vom Migros-Kulturprozent unterstützt.
Foto/Stage: Michael Bunel / SOS Méditerranée
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