Keine Ferien, kein eigenes Auto, kein Ausgang, kaum je neue Kleider, wenig zu essen. Für Daniel Capaldi* und Familie Röseler* ist das Alltag. Capaldi ist 35, geschieden, zwei Kinder (11 und 12) und arbeitet im Aussendienst. Er verdient netto 4400 Franken pro Monat, davon gehen 2400 weg für Alimente an die Kinder; abzüglich Miete, Krankenkasse und weitere Rechnungen bleiben ihm pro Monat 100 Franken fürs Essen. Er zuckt resigniert mit den Schultern. «Es gibt fast immer Pasta, meist nur gesalzen, ohne Sauce.»
Capaldis Leben war mal anders. Er hat bei einer Versicherung gearbeitet und gut verdient, das Geld aber auch mit vollen Händen ausgegeben. «Wir haben es uns gut gehen lassen, statt was auf die Seite zu legen. Das war ein Fehler.» Ebenfalls ein Fehler war der Kauf von Wohneigentum für die Familie. Die Umstände sprachen dafür, obwohl er es sich eigentlich nicht leisten konnte. «Die Bank hätte mir gar keine Hypothek geben dürfen», erklärt er rückblickend.
So kamen die ersten Schulden, die Beziehung kriselte, er fokussierte mehr und mehr auf den Job, bis ihm alles über den Kopf wuchs. Es folgten kurz hintereinander ein Burnout, die Entlassung im Job und die Scheidung. Gefolgt von der Verpfändung und der Zwangsversteigerung der Eigentumswohnung mit Verlust. Seit 2018 muss der Ostschweizer nun jeden Rappen umdrehen und hat dennoch kaum genug zum Leben – geschweige denn zum Abzahlen der Schulden, die immer weiter wachsen.
Hilfe zur Selbsthilfe
Der Verein Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen mit Erwerbsmöglichkeiten, Angeboten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und niederschwelliger Begleitung. Die Angebote des Vereins beinhalten unter anderem das Strassenmagazin, die Sozialen Stadtrundgänge, das gastronomische Solidaritätsnetzwerk Café Surprise, Job- und Förderprogramme sowie Sozialberatung und -begleitung in Basel, Bern und Zürich. Das Migros-Kulturprozent unterstützt Café Surprise sowie den geplanten Podcast «TITO – vom Obdachlosen zum Stadtführer».
Bei Familie Röseler begannen die Schwierigkeiten 2017, als der Vater (35) nach zehn Jahren einen gut bezahlten Job als Maschinenbauer verlor. Zwar fand er 2018 eine neue Festanstellung, verlor die jedoch nach Beginn der Corona-Pandemie. Seither arbeitet er temporär. Von den 5000 Franken, die pro Monat reinkommen, bleiben der Familie nach Abzug aller Pflichtausgaben 300 Franken für Lebensmittel, Kleidung und alles, was die Eltern und die drei Kinder (3, 6, 9) sonst noch brauchen. Vor Corona waren es knapp 500 Franken.
«Ausflüge liegen nicht immer drin, wenn die Kinder sich das wünschen», sagt Karin Röseler (40), «und zu Weihnachten und zum Geburtstag gibt’s immer nur kleine Geschenke.» Ihr tue es mehr weh als den Kindern, ihnen ihre Wünsche nicht erfüllen zu können, sagt sie. Für sie und ihren Mann sei Verzicht ohnehin Alltag: «Die Kinder kommen zuerst dran, für uns bleibt nichts übrig.»
Zu Beginn erst mal Scham
Schon seit 2017 bezieht sie einmal pro Woche gratis Lebensmittel über den gemeinnützigen Verein Phari, der im Kanton Baselland Lebensmittel, Hygieneprodukte und Kleider an Menschen abgibt, die am oder unter dem Existenzminimum leben. «Zu Beginn war das schwierig. Man geniert sich halt.» Heute ist sie froh, dass sie sich überwunden hat, diese Unterstützung anzunehmen. In der Regel bezieht sie dort Gemüse, Früchte, mit etwas Glück Hackfleisch. Kombiniert mit regulären Einkäufen von Aktionsprodukten reicht das für eine Woche mit einigermassen abwechslungsreicher Kost.
Anspruch auf Sozialhilfe hätte die Familie zwar, nutzt ihn jedoch nicht. «Wir haben mit der Sozialbürokratie nicht die besten Erfahrungen gemacht. Würde wir uns darauf einlassen, müsste ich zudem arbeiten, die Kinder müssten in die Kita, was zusätzlich Geld kostet. Das hat uns abgeschreckt.»
Daniel Capaldi hingegen hat keinen Anspruch auf Sozialhilfe, dafür verdient er zu viel. Aber als er Anfang 2021 wegen Corona ein halbes Jahr auf Kurzarbeit gesetzt wurde und es finanziell zu gar nichts mehr reichte, bat er die Caritas um Hilfe. «Die haben dann unkompliziert zwei Monate lang die Miete und die Krankenkasse übernommen.» Letztlich sei das aber nur «ein Tropfen auf den heissen Stein» gewesen. Inzwischen arbeitet er wieder Vollzeit, und die Lage ist lediglich wieder so eng wie vor Corona.
Aber dafür hat seine Ex-Frau ihren Job aufgegeben. «Sie war als Pflegerin tätig und hatte ein Burnout – die Arbeitsbedingungen wurden während Corona noch schwieriger als sie ohnehin schon waren.» Das bedeutet, dass es für sie und die Kinder, die zuvor «ganz okay» gelebt hatten, nun deutlich enger wird.
Inzwischen wissen es alle
Auch Capaldi hat sich lange geschämt für seine Lage. «Vier Jahre lang habe ich niemandem irgendwas erzählt – nicht mal meine Frau wusste von den vielen Schulden.» Doch irgendwann hielt er es nicht mehr aus und berichtete seinem besten Freund davon. Der sei aus allen Wolken gefallen. Mittlerweile wissen es alle. Und auch wenn er mal ein Date hat, erzählt er recht schnell davon. «Ich möchte nicht, dass sich irgendwas entwickelt, und dann alles vorbei ist, wenn sie die Wahrheit erfährt.» Finanzielle Hilfe ist allerdings via Freunde und Verwandtschaft nicht in Sicht.
Familie Röseler geht heute ebenfalls offen mit ihrer prekären finanziellen Lage um – und stösst damit auf viel Verständnis. «Zu Beginn wusste es nicht mal meine Mutter», erzählt Karin Röseler. «Aber sowas kann wirklich jedem passieren, man sollte drüber reden, damit man sich gegenseitig unterstützen kann.» Es sei dann natürlich auch irgendwann aufgefallen. «Plötzlich hatten wir kein Auto mehr, waren nur noch übers Festnetz erreichbar, hatten nichts mehr zu erzählen von unseren Wochenenden, weil wir halt einfach nur zu Hause oder in der Natur waren.»
Die ersten zwei, drei Monate seien schwer gewesen. «Aber irgendwie haben wir uns inzwischen daran gewöhnt. Man lernt auch, ein einfacheres Leben zu schätzen – oder den Wald vor der Haustür.» Röseler glaubt, dass sie auch mit mehr Geld einiges vom aktuellen Leben beibehalten würden. «Aber ein Auto und wieder mal Ferien, das wäre schon schön.» Von ihren Familien wollen sie sich jedoch nicht helfen lassen: «Wir sind da reingerutscht, wir müssen auch selbst wieder rauskommen.» Und es funktioniere ja auch irgendwie. «Gesundheitlich sind alle fit, es geht uns im Grunde gut.»
Capaldi hat dank seines Jobs ein Geschäftsauto, das er auch privat nutzen kann. «Zum Glück. Sonst würde es sogar schwierig, meine Kinder zu besuchen.» Und auch er sagt, er habe sich ein Stück weit an die Situation gewöhnt. «Ich bin nicht anspruchsvoll und mit wenig zufrieden.» Dennoch macht er sich wenig Hoffnungen, dass es irgendwann mal wieder besser wird. Die Schulden werden weiter wachsen – nur schon durch die Steuern, die er nicht bezahlen kann. Selbst wenn die Alimente irgendwann wegfallen, wird es lange dauern, diesen Betrag abzustottern – bis nach der Pensionierung, hat er ausgerechnet.
Schwierige Zukunftsperspektiven
«Mir könnte nur ein Lottogewinn helfen», scherzt er. Denn Lotto zu spielen, kann er sich eh nicht leisten. Und seine beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten mit deutlich besserem Lohn sind begrenzt, weil er nach einer Strafanzeige seiner Ex-Frau wegen Urkundenfälschung aus einer Zeit, in der sie schwer zerstritten waren, einige Jobs gar nicht mehr kriegen kann. «Ich habe im Grunde keine Chance, dass sich je etwas bessert.» Gleichzeitig gebe die Schweiz Milliarden für neue Kampfjets aus oder zur Rettung von Unternehmen, die sich verspekulierten wie die UBS damals in der Finanzkrise. «Man stelle sich vor, wie vielen Menschen man hierzulande mit diesen Beträgen helfen könnte.»
Bei Familie Röseler sind die Perspektiven weniger düster. Der Vater hat Chancen auf eine neue Festanstellung in dem Unternehmen, wo er derzeit temporär arbeitet, was etwas mehr Geld bringen würde. «Zur komfortablen Lage von vor 2017 werden wir wohl nicht zurückkehren», sagt Karin Röseler. «Aber in zwei, drei Jahren, wenn die Kinder älter sind, kann ich wieder was Kleines arbeiten. Dann wird sich einiges bessern.»
*Namen der Redaktion bekannt
Armut in der Schweiz
Die Armutsgrenze in der Schweiz betrug 2019 laut Bundesamt für Statistik durchschnittlich 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3976 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren (neuere Zahlen gibt es nicht). Damit müssen Wohnkosten, Krankenkasse, Essen, Kleidung, Kommunikation, Energieverbrauch, laufende Haushaltsführung, Gesundheitspflege, Verkehrsauslagen, Unterhaltung und Bildung, Körperpflege sowie Vereinsbeiträge und Hobbys bezahlt werden.
Die Armutsquote ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. 2019 waren 735 000 Menschen von Armut betroffen, das ist eine Zunahme von 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr (660 000 Menschen). 2019 lief die Wirtschaft gut, die Arbeitslosigkeit war rekordtief – dennoch ist es nicht gelungen, die Armut zu reduzieren.
115'000 Kinder bis 17 Jahre gelten in der Schweiz als arm, das sind 7,5% aller Kinder. Alleinerziehende Eltern sind besonders häufig in Notlagen: 13,5 % aller Einelternhaushalte sind armutsbetroffen.
Armut ist hierzulande oft verborgen. In Haiti bedeutet sie, kein Dach über dem Kopf zu haben. In der Schweiz hingegen ist jemand arm, wenn der Lohn nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bewältigen – etwa wenn man sich weder Krankenkasse, Zahnarztbesuch noch angemessenen Wohnraum leisten kann. Mangelnde Kontakte zu anderen, der Ausschluss aus der Gesellschaft und Perspektivlosigkeit sind Auswirkungen von Armut in der Schweiz.
1,32 Millionen Menschen in der Schweiz (jede sechste Person) sind arm oder armutsgefährdet, haben also ein deutlich tieferes Einkommen als die Gesamtbevölkerung (weniger als 60% des mittleren Einkommens). Unter ihnen sind überdurchschnittlich viele Familien mit drei und mehr Kindern. Armutsgefährdete sind durch die Corona-Krise besonders häufig in Not geraten – für sie ist das Eis sehr dünn.
Schon vor Corona ist die Armut besonders im Zusammenhang mit prekären Arbeitsverhältnissen gewachsen. Bei den «Working Poor» gab es 2019 einen Anstieg um 16 Prozent, das bedeutet, dass rund 155 000 Personen trotz Erwerbsarbeit arm waren. Gestiegen ist auch die Armutsquote von Menschen ohne nachobligatorische Bildung (von 12,1 auf 15,9 Prozent, rund 174 000 Menschen). Ebenfalls stärker betroffen waren Menschen ohne Schweizer Pass (eine Zunahme von 245 000 auf 273 000 Personen).
32'196 Langzeitarbeitslose gab es in der Schweiz laut der Arbeitslosenstatistik des Seco im September 2021. Diese Zahl hat sich seit Beginn der Corona-Krise mehr als verdoppelt (14’579 Personen im Februar 2020).
Rund ein Drittel der Anspruchsberechtigten verzichtet laut einer Studie der Berner Fachhochschule auf Sozialhilfe. Dies betrifft insbesondere Personen ohne Schweizer Bürgerrecht, die Angst haben, durch Sozialhilfebezug ihren Aufenthaltsstatus zu gefährden.
Quellen: Caritas, Bundesamt für Statistik, Seco
Foto/Bühne: Freiwillige Helfer von Caravane de la Solidarite Genève bereiten in der Eishalle von Vernets die organisierten Lebensmitteltüten vor. © Keystone/Martial Trezzini
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