Montagmorgen im Zürcher Schulhaus Aussersihl. 17 Paar Füsse sind im Kreis gruppiert statt wie sonst unter Schulbänken. Ein Workshop zur Prävention sexueller Gewalt steht auf dem Plan. Drei junge Leute – Amea, Sämi und Shu – führen durch den Vormittag und mischen sich unter die Schülerinnen und Schüler.
Laut der Schweizer Optimus Studie, für die 2012 über 6000 Jugendliche befragt wurden, erleben 22 Prozent der Mädchen und acht Prozent der Jungen bis zur neunten Klasse mindestens einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt. In rund 40 Prozent der Fälle sind Gleichaltrige beteiligt. Genau hier will der Workshop «Ja, nein, vielleicht» ansetzen.
Das Jugendprojekt «Ja, nein, vielleicht»
«Ja, nein, vielleicht» ist ein Workshop-Format zur Prävention sexueller Übergriffe unter Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Im Fokus stehen dabei Geschlechterrollenbilder und Konsens. Bis Ende 2021 wird der Workshop kostenlos angeboten.
Träger des Projektes ist NCBI Schweiz, ein konfessionell und parteipolitisch neutraler Verein. NCBI setzt sich ein für den Abbau von Vorurteilen, von Rassismus und Diskriminierung sowie für Gewaltprävention und konstruktive Konfliktlösung.
Das Migros-Kulturprozent unterstützt das Projekt «Ja, nein, vielleicht» zur Prävention sexueller Übergriffe unter Jugendlichen – um den Dialog zu fördern und das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft zu stärken.
Zum Aufwärmen gibt es für die Sechstklässler ein Spiel: Alle, die sich mit einem Statement identifizieren, sollen aufstehen, die anderen bleiben sitzen. «Wer hat schon mal Wahrheit oder Pflicht gespielt?» fragt Projektleiter Sämi (32). Fast alle Schülerinnen und Schüler erheben sich. «Wer hat schon mal beobachtet, dass sich eine Person unwohl fühlte, weil eine andere ihr zu nahe kam?» Wieder stehen fast alle. «Und wem ist das selbst schon mal passiert?» Drei Mädchen stehen auf.
Anschliessend sammeln sie positive und negative Flirtstrategien. «Niemand muss was sagen, wenn er nicht mag», hat Projektleiterin Amea (28) zuvor verkündet. Aber sie wollen. Und sie erzählen. Von Hinterherpfeifen und ungefragtem Körperkontakt. Aber auch von Komplimenten, heimlichen Blicken und wie wichtig es ist, zu seinen Gefühlen zu stehen – in der Schule etwa, wenn man verliebt ist: «Die Jungen habe damit eher Mühe», vermuten die Mädchen. «Das ist für alle gleich schwer», kontern die Jungen. Und auch die Projektleitenden bringen sich ein, erzählen von eigenen schönen und weniger schönen Flirts.
Dieses Begegnen auf Augenhöhe findet Agota Lavoyer besonders wichtig. Sie leitet die Opferhilfe Solothurn und sagt: Statt von oben herab über Richtig und Falsch belehrt zu werden, sollten Heranwachsende Gelegenheit zur Diskussion haben. «Dieser Austausch ist enorm lehrreich.» Jugendliche müssten zudem für ihre eigenen Grenzen sensibilisiert werden – «weil sie diese eben nicht intuitiv kennen.» Entscheidend sei hier die Sozialisation: Hören Jugendliche von Eltern und Freunden, dass es ein Kompliment ist, wenn Jungen Mädchen hinterherpfeifen, trauen sie ihrer intuitiven Wahrnehmung irgendwann nicht mehr, die eigentlich wäre: «Ich fühle mich nicht gut dabei.»
Die Optimus-Studie bietet das neuste Zahlenmaterial, das verfügbar ist. Tatsache ist: Die die Opferhilfen verbuchen eine steigende Anzahl von Fällen. Woran dies liegt, ist jedoch unklar. Lavoyer vermutet, dass es nicht an einer steigenden Zahl sexueller Übergriffe liegt, sondern an einer zunehmenden Sensibilisierung. Sprich: Es wird früher Hilfe geholt. Dazu sollte man die Jugendlichen auch immer wieder ermutigen (siehe Box mit Tipps unten).
In der nächsten Runde geht es im Zürcher Schulhaus um einvernehmliche Zustimmung. Ein lustiges Video vergleicht die Lust auf Sex mit der Lust auf Tee. Und macht klar: In beiden Fällen kann man seine Meinung ändern, auch wenn man zuerst Ja gesagt hat. «Will eine andere Person etwas nicht, darf man sie nicht zwingen», sagt dazu Schüler John*. «Genau», bestätigt Workshopleiter Sämi, «sonst verhält man sich übergriffig.»
Der Gruppendruck ist nicht zu unterschätzen
Doch viele Situationen sind gar nicht so leicht einzuschätzen. Dies zeigt das Ampelspiel, bei dem die Kinder mit hoch gehaltenen roten, grünen und gelben Karten verschiedene Szenarien bewerten. Projektleiterin Shu (27) liest Beispiele vor: «Die Mädchen spielen Wahrheit oder Pflicht. Als Ronja an die Reihe kommt, soll sie in den Nachbarraum gehen und Sebastian an den Po fassen. Ohne zu überlegen steht sie auf und tut es.» Sieben Mädchen strecken rote Karten in die Luft, acht Jungen eine gelbe. «Falls Sebastian und Ronja sich kennen, finde ich es nicht so schlimm», begründet einer von ihnen. Seine Kollegin Nora ist entsetzt: «Das geht gar nicht!», ruft sie, «das ist doch privat!». Es folgt eine hitzige Diskussion, an deren Ende sich die Gruppe auf «es ist übergriffig» einigt. «Bei Wahrheit oder Pflicht ist der Gruppendruck so gross, dass man nicht frei entscheiden kann», fasst ein Junge zusammen.
Bei Wahrheit oder Pflicht ist der Gruppendruck so gross, dass man nicht frei entscheiden kann
Sechstklässler im Workshop «Ja, nein, vielleicht»
«Am besten greift man Themen wie Gruppendruck bei jeder Gelegenheit auf – nur einmal genügt nicht», sagt dazu Agota Lavoyers. Präventionsarbeit gelinge am besten, wenn sie Teil des Alltags werde. Denn Heranwachsende haben oft ein stereotypes Bild von Gewalt: «Viele denken dabei eher an blaue Flecken. Umso wichtiger sind alltägliche Beispiele, die klar machen: Auch das ist sexualisierte Gewalt!»
Das nächste Beispiel ist ebenfalls dem Alltag entlehnt: Es geht um ein Mädchen, dass seine Tante zur Begrüssung nicht küssen will, dies auf Druck der Eltern aber doch tut. «Ist es nur ihre Tante, finde ich es nicht schlimm», sagt ein Junge. «Aber für das Mädchen ist es schlimm», beharrt ein anderer. Die Projektleitenden haken ein: Bereits Kinder sollten lernen, ihre Grenzen zu zeigen. «Wenn ihr wisst, wo eure sind, dürft ihr von anderen erwarten, dass sie sich daran halten!»
Gegen Ende, als die Konzentration bereits schwindet, beantworten die Projektleitenden persönliche Fragen, wie etwa: «Wurdet ihr schon mal sexuell belästigt?» «Ja», sagt eine der Leiterinnen in das Stimmengewirr hinein, «ich war 16 und er ein guter Freund. Hinterher meinte er: «Das war doch keine grosse Sache, stell dich nicht so an.» Ich habe viele Jahre gebraucht um zu verstehen, dass das sexuelle Belästigung war.» Im Schulzimmer ist es jetzt mucksmäuschenstill.
* Alle Namen geändert
«Gewalt und Übergriffe in sexuellen Beziehungen sind ein Riesenthema»
Andi Geu ist Ko-Geschäftsleiter des Vereins NCBI Schweiz. Er erzählt, weshalb der Workshop so wichtig ist.
Herr Geu, nach welchen Kriterien nehmen Sie Workshops in Ihr Programm auf?
NCBI Schweiz setzt sich ein für den Abbau von Vorurteilen, von Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art sowie für Gewaltprävention und konstruktive Konfliktlösung. Insofern haben alle von uns angebotenen Projekte mit diesen Themen zu tun. Den Workshop zum Projekt «Ja, nein, vielleicht» haben wir konzipiert, nachdem wir in anderen partizipativen Projekten feststellten: «Gewalt und Übergriffe in sexuellen Beziehungen sind ein Riesenthema! Da wollen wir etwas machen!» Zudem zeigen Studien, wie zum Beispiel die Schweizer Optimus Studie aus dem Jahr 2012, wie sehr Jugendliche davon betroffen sind.
Wie ging es weiter?
2018 entstand die Idee, 2019 konzipierten wir das Ganze, suchten Geld zusammen und starteten dank Unterstützung durch das Migros-Kulturprozent zwei Pilotworkshops. Richtig loslegen konnten wir aufgrund der Pandemie dann jedoch erst dieses Frühjahr. Bis Ende des Jahres ist die Finanzierung von «Ja, nein, vielleicht» auf jeden Fall gesichert, so dass wir den Workshop kostenlos anbieten. Wenn es gut läuft, haben wir das Ganze noch über den Sommer 2022 hinaus im Programm.
Interessierte Schulklassen können sich also bei NCBI melden?
Ja, genau. Der Workshop richtet sich an Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren. Ob für Schulklassen, Brückenangebote im 10. Schuljahr oder für Jugendverbände wie Pfadis: Umgang mit Grenzen, Geschlechterrollenbilder und Konsens sind für alle zentrale Themen.
Was treibt Sie persönlich dabei an?
Sowohl beim Engagement für unsere Organisation als auch beim Workshop: Die Welt, in der wir leben, für alle Beteiligten besser zu machen, ist meine Hauptmotivation.
Tipps und Adressen
Für Jugendliche
- Was sind sexuelle Übergriffe? Wenn dir jemand gegen deinen Willen anzüglich Witze erzählt oder Porno-Bilder zeigt. Was sexuelle Gewalt? Körperkontakt gegen deinen Willen. Weitere Infos und Tipps, wie man sich davor schützen kann: www.feel-ok.ch (Gesundheitsplattform für Jugendliche)
- Was tun, wenn ich sexuelle Gewalt beobachte? Schau nicht weg und bilde dir eine Meinung. Bring dich nicht in Gefahr. Unterstütze die betroffene Person oder hole Hilfe.
- Hast du sexuelle Übergriffe oder sexuelle Gewalt erlebt, musst du wissen, dass du nicht schuldig bist. Unterstützung findest du z.B. bei www.lustundfrust.ch (Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung der Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich. Kostenlose Beratungen für Jugendliche bis 21 Jahre aus Stadt und Kanton Zürich. Auch Fragen von Eltern werden beantwortet) oder www.opferhilfe-schweiz.ch (kostenlose, vertrauliche und anonyme Beratung in der ganzen Schweiz).
Für Eltern und Angehörige: Wie auf sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen reagieren?
- Vertrauen stärken. Etwa sagen: Danke, dass du mir davon erzählst. Ich glaube dir.
- Zuhören und mit ruhiger Stimme offene Fragen stellen. Was ist passiert? Wann fand es statt? Wo ist es passiert? Was hat er/ sie dann gemacht?
- Sachlich Rückmeldung geben. Jugendliche, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, werden gestärkt, wenn sie hören, dass man sofort eingegriffen hätte, wäre man dabei gewesen.
- Dem Jugendlichen keinen Vorwurf machen. Betroffene trauen sich oft nicht, sich sofort an einen Erwachsenen zu wenden. Dies dem Jugendlichen nicht vorhalten.
- Ordnung und Sicherheit vermitteln. Sohn oder Tochter informieren, wie die nächsten Schritte aussehen, um sie und andere vor weiteren Übergriffen zu schützen.
- Unterstützung holen (siehe Links oben)
Foto/Bühne: Nik Hunger
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