Was bedeutet frugale Innovation? Kurz gesagt: mit weniger Ressourcen bessere Resultate zu erreichen. Dies kann einzelne Produkte betreffen, aber auch ganze Geschäftsmodelle von Firmen. Es ist ein Weg, mit einfachen Lösungen profitabel, aber schonender und besser zu wirtschaften, indem man mit weniger Kapital, weniger Zeit, weniger Energie, weniger Umweltbelastung Mehrwert schafft. Dafür braucht es unkonventionelles, kreatives Denken sowie Kooperation – auch zwischen Unternehmen, die sich sonst vielleicht eher als Rivalen sehen. Letztlich wirkt sich frugale Innovation nicht nur positiv auf die Wirtschaft aus, sondern ebenso auf das gesellschaftliche Zusammenleben, die Umwelt und das Klima.
Beispiele für frugale Innovation
Günstige Autos
Renault gilt als Pionier des Konzepts in Europa. 2004 lancierte der Konzern das Modell «Logan» für 5000 Euro – damals das günstigste Auto überhaupt. Der grosse Erfolg führte zu einer Produktlinie namens «Dacia» und schliesslich zu einer eigenen Geschäftseinheit für so genannte Einstiegs-Fahrzeuge. Diese macht heute über 40 Prozent von Renaults Umsatz aus – die Firma verdient dabei an einzelnen Autos sogar mehr als bei teureren Modellen.
Der günstige Preis ist frugaler Innovation zu verdanken. «Logan» wurde ursprünglich von Ingenieuren in Rumänien entwickelt, die daran gewöhnt waren, mit knappen Ressourcen zu arbeiten. Sie beschränkten sich deshalb auf das Nötigste und reduzierten die Menge der Bauteile, so dass sich das Fahrzeug einfacher zusammensetzen liess. Statt etwa wie üblich zwei unterschiedliche Rückspiegel für links und rechts zu entwickeln, wurden der gleiche für beide Seiten verwendet. «Logan» brauchte also weniger Rohmaterial und liess sich schneller und leichter bauen.
2015 lancierte Renault das günstige Modell KWID in Indien für 3500 Euro. Später verwendeten sie dies als Grundlage für die Entwicklung einer Elektrovariante, die 2017 in China für 8000 Euro auf den Markt gebracht wurde. Daraus wiederum entstand Europas günstigstes Elektroauto – der «Dacia Spring», der letztes Jahr für 12’000 Euro in Frankreich lanciert wurde. Renault arbeitet jeweils mit lokalen Leuten und Zulieferern, um die Kosten tief zu halten und Ressourcen vor Ort zu nutzen.
Günstige Räume
Ausrangierte Schiffscontainer lassen sich auf kreative Weise weiterverwenden. Bei diesem Projekt in Rhode Island (USA) entstanden aus 32 Containern zwölf Büros und Mini-Wohnungen. Der Komplex war nicht nur im Bau deutlich preiswerter als üblich, die Räume lassen sich auch günstiger vermieten. Eine ähnliche Zweckentfremdung solcher Container findet sich im Zürcher CoWorking-Space Kraftwerk.
Angestellte teilen
Während der Corona-Pandemie gab es in vielen Schweizer Stadthotels wenig zu tun, während man in Berghotels Personal suchte. Also arbeiteten einige Hotelangestellte aus der Stadt vorübergehend in den Bergen mit, sie wurden dafür quasi ausgeliehen. Hotelleriesuisse setzt sich schon länger für solche flexiblen Modelle ein – dass Angestellte je nach Arbeitsbedarf im Winter und im Sommer an anderen Orten eingesetzt werden können. Solches Mitarbeiter-Sharing gab es während der Pandemie auch in anderen Branchen. So unterstützte etwa ein Teil der unbeschäftigten Mitarbeitenden des Reiseanbieters Hotelplan die gestressten Angestellten des Online-Händlers Digitec/Galaxus, der ebenfalls zur Migros gehört. Statt Leute zu entlassen und damit wertvolle Ressourcen und Talente zu verlieren, werden sie kreativ und für beide Seiten nutzbringend anders eingesetzt; gleichzeitig wird so die lokale Wirtschaft unterstützt.
Unkonventionelle Bankfilialen
Anders als viele Neo-Banken entschied sich das französische Start-up Nickel 2014, seine Kunden nicht nur digital anzusprechen. Man stellte Bankomaten in bereits existierende kleine Läden und Kioske, an denen jeder lediglich mit einem Ausweis innert fünf Minuten ein Bankkonto eröffnen kann. Für eine Jahresgebühr von etwa 20 Euro kann man online Zahlungen empfangen und machen, erhält eine Debitkarte und jederzeit Bargeld in den «Filialen». Nickel hat heute über zwei Millionen Kundinnen und Kunden, darunter zwei Drittel aus dem Mittelstand, die das günstige und einfache Angebot mit dem grossen physischen Netzwerk schätzen.
Beatmungsgeräte aus Taucherbrillen
Als in Norditalien im Frühling 2020 die Beatmungsgeräte für Corona-Patienten ausgingen, liess ein Arzt aus im Überfluss vorhandenen Taucherausrüstungen bei Sporthändlern behelfsmässigen Ersatz herstellen. Die dafür notwendigen zusätzlichen Teile wurden mit Hilfe eines Designers mittels 3D-Printer produziert. Eine existierende Ressource wurde auf diese Weise hilfreich und ohne grossen Aufwand zweckentfremdet.
Mieten statt kaufen
Auf der Schweizer Mietplattform sharely.ch, an der auch die Migros beteiligt ist, kann man Dinge mieten, die man nur ab und zu mal braucht, etwa Autoanhänger, Bohrmaschinen oder Dampfreiniger – und dies in der Regel ganz in der Nähe. Dies spart nicht Geld, Platz und Ressourcen, sondern eröffnet für Firmen auch neue Ertragsquellen und Kundschaft.
Platz im Tausch gegen Wärme
Der französische Detailhändler Groupe Casino vermiete seit 2019 ungenutzte Lagerhäuser und -räume an das IT-Unternehmen Qarnot Computing, das dort seine Server und Daten-Center unterbringt. Gleichzeitig wird die Abwärme der Server verwendet, um die Büros und Geschäfte des Detailhändlers zu heizen und deren Wasserboiler anzutreiben. Beide sparen dadurch Kosten, nutzen ihre Ressourcen effizienter und generieren zusätzliche Einnahmen.
Die grösste Hürde ist die Geisteshaltung
Navi Radjou
Navi Radjou, clevere Ideen um mit wenig viel zu machen, entstehen meist aus der Not. Sind ärmere Länder deshalb besser bei frugaler Innovation?
Tendenziell ja. Die Leute dort haben oft keine andere Wahl und müssen sich etwas einfallen lassen. Aber auch in wohlhabenderen Ländern gibt es immer mehr Menschen, die mit wenig zurechtkommen müssen. 60 Prozent der US-Bevölkerung haben weniger als 500 Dollar auf der Seite, auf die sie im Notfall zurückgreifen können. Zahlen der OECD aus der Zeit vor Corona zeigen, dass 22 Prozent der Bevölkerung Europas armutsgefährdet ist. Die Voraussetzungen für frugale Innovation sind also da.
Gleichzeitig sind die Ansprüche und gesetzliche Sicherheitsauflagen in Europa höher, und die kosten halt.
Das ist so – es gibt nach unten gewisse Grenzen. Dennoch finden sich in Europa zwei ganz unterschiedliche Zielgruppen für Produkte, die mittels frugaler Innovation entstehen: die Wohlhabenden und gut Gebildeten, denen Nachhaltigkeit, Umwelt und Klima wichtig sind, sowie die Ärmeren, die sich schlicht keine teuren Produkte leisten können oder wollen. Sie haben unmittelbarere Probleme als sich um die Zukunft des Planeten zu sorgen, weil ihnen schon lange vor Monatsende das Geld ausgeht.
Die Motivation wäre also da. Dennoch scheinen konkrete Beispiele noch nicht so zahlreich – woran liegt das?
Es gibt ein paar Hürden. Die grösste ist wohl die Geisteshaltung: Produkteentwickler sind darauf trainiert, sich etwas Neues einfallen zu lassen und dabei mehr zu bieten als beim Vorgängerprodukt. Und kreieren dann oft mit enormem Aufwand nur geringen Mehrwert – das Gegenteil von frugaler Innovation. Selbst wenn die Ingenieure und Entwickler Frugalität als interessante Herausforderung annehmen, kommt Druck aus der Verkaufs- und Marketingabteilung, die etwas brauchen, das sie als tolle Neuheit anpreisen können. Um diese Geisteshaltung auszumanövrieren, hat Renault für seine günstigen Einsteigerautos extra eine neue Verkaufsabteilung aufgebaut.
18. Europäischer Trendtag am GDI
Das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) beschäftigt sich am 9. März mit frugaler Innovation, also überraschenden, einfachen Ideen, um aus beschränkten Ressourcen mehr herauszuholen. Navi Radjou (51) ist einer der Referenten. Der Experte für Innovation war Vizepräsident beim Forschungsunternehmen Forrester Research und ist Co-Autor von «Frugal Innovation: How to do better with less». Der in Indien geborene amerikanisch-französische Staatsbürger lebt in Paris.
Infos und Tickets zum Trendtag
Welche weiteren Herausforderungen gibt es?
Am besten hält man sich an diese drei Prinzipien: 1. Es einfach halten. Was brauchen die Kunden wirklich? Wie nutzen sie das Produkt? Welche Aspekte braucht es zwingend, welche kann man sich genauso gut sparen? 2. Das Rad nicht neu erfinden. Kann man auf einem bereits existierenden Produkt oder einen bereits existierenden Ort aufbauen und durch Veränderungen etwas Neues mit Mehrwert generieren? 3. Horizontal denken. Lassen sich bisher getrennte Bereiche wie etwa Mobilität, Nahrungsmittel und Gesundheitswesen verbinden und als ein neues, bereichsübergreifendes Ökosystem nutzen? Und könnte man nicht das Silodenken in Firmen abschaffen und die gleiche Person für Innovation, Nachhaltigkeit und Marketing einsetzen?
Ein weiterer Ansatz ist die Kooperation zwischen Firmen. Aber sehen die sich nicht meist eher als Konkurrenten und weniger als Partner?
Schon heute kooperieren Konkurrenten in gewissen Bereichen, um Geld zu sparen. Aber angestrebt wird noch viel mehr. In Deutschland versucht die Organisation CSCP Rivalen zusammenzubringen, indem sie sagt: Heute seid ihr zwar Konkurrenten, aber stellt euch vor, wie euer Markt 2030 oder 2040 aussehen dürfte. Die Kunden von morgen werden andere Bedürfnisse und andere Werte haben, vieles wird sich ändern müssen, um sich entsprechend anzupassen. Ihr könnt nur gewinnen, wenn ihr gemeinsam darüber nachdenkt, was es dafür braucht. Statt sich um einen möglichst grossen Anteil des bestehenden Kuchens zu streiten, sollen sie gemeinsam einen neuen Kuchen aufbauen.
Gibt es solche Kooperationen schon?
Ja, zum Beispiel teilen sich die Energiekonzerne BP, ENI, Shell und Total in Malaysia einen Logistik-Hub, dank dem sie nicht nur Geld sparen, sondern auch ihren CO2-Verbrauch reduziert haben. In der Schweiz bietet b2bcherry.com eine Plattform, die Unternehmen, Organisationen, Vereine und mehr zusammenbringt, um Ressourcen oder Infrastruktur zu teilen. Auch das WEF ist bei diesem Thema sehr engagiert.
Es geht nicht darum, weniger zu konsumieren, sondern besser und selektiver.
Navi Radjou
Die Schweiz schneidet im internationalen Vergleich bei der Innovation zuverlässig sehr gut ab. Zurecht?
Es kommt immer darauf an, wie das gemessen wird. Meist ist die Zahl neuer Patente dabei ein wichtiger Massstab, und in dem Bereich ist die Schweiz sehr erfolgreich. Frugale Innovation wäre aber, auf schon bestehenden Patenten etwas Neues aufzubauen. Grundsätzlich sollte die Schweiz schauen, worin sie besonders gut ist. Und überlegen, ob es dort nicht Möglichkeiten gäbe, dies frugal weiterzuentwickeln.
Sehen sie dann dafür Potenzial in der Schweiz?
Oh ja, denn die Schweiz ist nicht nur bei Forschung und Entwicklung erstklassig, sondern legt auch Wert auf hohe Qualität und guten Service. Schweizer Firmen könnten ein Vorbild für die Welt sein. Potenzial sehe ich zum Beispiel im Tourismussektor. Projekte, mit denen man den Service erschwinglicher macht, ohne dabei an Qualität einzubüssen, könnten ganz neue Zielgruppen erschliessen. Ich habe dazu an einer Hotelfachschule in Lausanne mal einen Workshop gemacht, mit CEOs und Studierenden – erstere taten sich eher schwer damit, letztere aber fanden das sehr spannend und hatten durchaus Ideen, etwa Mischformen von Hotels und Airbnb.
Wie kann man im Alltag diese Geisteshaltung bei Unternehmen fördern?
In dem man die eigene Kaufkraft nutzt, um sie zu Veränderungen zu motivieren. Es geht nicht darum, weniger zu konsumieren, sondern besser und selektiver. Etwa indem man lokale und regionale Produkte kauft. Oder Dinge ausleiht und teilt statt sie neu zu kaufen. Oder sie länger nutzt, statt rasch zu ersetzen – etwa Kleidung oder Smartphones. Das lässt sich alles tun, ohne Abstriche am eigenen Lebensstandard zu machen.
Foto/Bühne: Box Office © Nat Rea
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