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«Ich habe mich nie behindert gefühlt»

Text

Marlies Seifert

Erschienen

17.05.2023

Amruta Wyssmann an der Kletterwand

Innert kurzer Zeit von der Hobbysportlerin zur WM-Hoffnung: Parakletterin Amruta Wyssmann lebt einen Traum, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn hat.

Spitzensportlerin. Und erst noch im Klettern. Dass sie diesen August für die Schweiz an der Heim-WM antritt, kann ­Amruta Wyssmann noch immer nicht ganz fassen. «Es ist total surreal, alles ging wahnsinnig schnell», sagt sie. «Immer wieder gibt es Momente, in ­denen ich denke: Was machst du hier eigentlich?»

Als wir sie treffen, steckt Amruta – oder Amy, wie ihre Freunde in der Kletterhalle sie nennen – gerade mitten in einem Shooting für ­einen Kalender. Die 30-jährige Bündnerin gilt als Schweizer Botschafterin für das Paraklettern, also das Klettern für Menschen mit Behinderung.

Amruta Wyssmann steht vor der Kletterwand

Klettern ohne linken Unterarm

Wenn sie die fast 20 Meter hohen Wände in der Kletterhalle mühelos hochkraxelt, fällt es zuerst gar nicht auf: ­Amruta kam ohne linken Unterarm zur Welt. «Ich habe mich nie ­behindert gefühlt», sagt sie. «Meine Eltern gaben mir immer das ­Gefühl, dass ich alles schaffen kann.»

Ein richtiger «Ruech» sei sie gewesen, habe mit den Buben Unihockey ­gespielt und sei Bäume hochgeklettert. «Allerdings nicht sehr erfolgreich – meine Knie waren öfter mal aufgeschlagen», erinnert sie sich lachend. Die Berge vor der Haustür macht Amruta vor allem im Winter unsicher. «Beim Snowboarden bin ich ganz in meinem Element.»

Liebe auf den zweiten Blick

Erst als sie ins Flachland zog, entdeckte die Wahlbernerin das Klettern für sich. «Auf den ersten Blick dachte ich nicht, dass das etwas für mich ist. Doch dann war ich direkt angefixt.» Amruta verbrachte fortan den Grossteil ihrer Freizeit in der Boulder­halle.

Dann kam ­Corona. «Kurz nach dem ersten Lockdown wurde ich angefragt, ob ich nicht an der nächsten Kletterweltmeisterschaft teilnehmen möchte.» Zu jenem Zeitpunkt gab es noch kein Schweizer Parateam für die Heim-WM in Bern.

Amruta Wyssmann hängt im Seil an der Keltterwand

Amruta Wyssmann beim Training in der Kletterhalle O’Bloc in Ostermundigen.

Ich habe einen Ehrgeiz entwickelt, den ich nicht für möglich gehalten hätte.

Amruta Wyssmann Parakletterin

Ziel: Finaleinzug an der WM

«Das erste Dreivierteljahr war ich allein, lernte das Klettern am Seil.» Nach mehreren Schnuppertrainings kamen ­Athletinnen und Athleten dazu. «Heute sind wir ein gutes Dutzend», freut sich Amruta, die in der Zwischenzeit auch internationale Wettkampfluft schnuppern konnte.

Sie fühlt sich angekommen im Behindertensport. Die familiäre Stimmung beflügelt sie. «Ich habe einen Ehrgeiz entwickelt, den ich nicht für möglich gehalten hätte.» Ihr Ziel für die WM: Finaleinzug, sprich Top 4.

Amruta Wyssmann weit oben in der Kletterwand

Sichtbarkeit stärken

Und beim Training in der Halle gibt es sowieso keine Unterschiede. Amruta klettert dieselben Strecken wie alle anderen auch. «Sobald ich den Pulli ausziehe, wenden sich natürlich alle Blicke auf mich.»

Inzwischen steckt sie die Aufmerksamkeit locker weg. Schon bei ihrer jahre­langen Arbeit im Gastgewerbe habe sie ganz selbstverständlich wie alle anderen Drinks gemixt und Tablare getragen.

«Aber der Sport hat mir noch mehr Selbstvertrauen gegeben und in mir den Kampfgeist geweckt, zu sagen: Ich kann das auch, und ich muss mich nicht verstecken.» Sichtbarkeit stärken und Barrieren abbauen: Amruta Wyssmann lebt dank des Kletterns ihren Traum.

Frauen am Berg

Ihre ersten Kletterschuhe hat Amruta Wyssmann dem Alpi­nen Museum in Bern geschenkt. Das dortige «Fundbüro für Erinnerungen» zeigt im Rahmen der Ausstellung «Frauen am Berg» verschiedene Objekte bekannter und weniger bekannter Schweizer Bergsportlerinnen.  Ein spannender Einblick in die Geschichte des weib­lichen Alpinismus. Das Projekt wird ­ermöglicht durch den Migros-­Pionierfonds.  

Infos: alpinesmuseum.ch

Fotos: Hugo Vincent

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