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Der Schmerz der Hinter­bliebenen

Text

Barbara Lukesch

Erschienen

18.03.2022

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Wenn ein Familienmitglied Suizid begeht, leiden seine Angehörigen oft jahrelang unter dem Verlust. Zwei Betroffene erzählen, wie sie diesen Schicksalsschlag überwunden haben.

Der helle Labrador liegt auf seiner ­Decke auf dem Boden des Wohnzimmers und zerbeisst einen Knochen. Die Geräusche, die er dabei produziert, sind für eine Weile die einzigen, die den grossen Raum erfüllen. Martin M. sitzt schweigend am Tisch. Dann sagt er: «Ja, wie geht es mir?» Oft beantworte er diese Frage mit den Worten: «Wir sind alle gesund.» Wenn er sich unbeschwerter fühle, antworte er wie die meisten Leute: «Gut.» Und jetzt? In den vergangenen Tagen sei er traurig gewesen, weil seine Schwester vor zwei Wochen gestorben sei und sich der Todestag seiner Frau zum vierten Mal gejährt habe. Damit seien immer schmerzliche Gefühle und Erinnerungen verbunden.

Seine Frau hat am Samstag, 17. Fe­bruar 2018, Suizid begangen. Depressionen hatten sie während langer Zeit schwer belastet. Sie war mehr als ein Jahr bei einem Psychiater in Behandlung, und nach einem Suizidversuch verbrachte sie mehrere Monate stationär in zwei psychiatrischen Kliniken. Ihrem Mann war bewusst, wie verzweifelt seine Frau gegen die zerstö­rerischen Kräfte ihrer Krankheit ankämpfte und wie ohnmächtig sie sich oft fühlte. Kurz vor ihrem Tod sagte er zu Freunden, dass er das Risiko, dass sie sich etwas antue, als hoch einstufe: «50 zu 50.» Als sie Ernst machte, war er dennoch fassungslos. «Allen Warnsignalen zum Trotz war dieser Schritt letztlich undenkbar geblieben.»

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Für mich war es enorm wichtig, den Schmerz mit anderen Betroffenen teilen zu können.

Martin M.

Martin M. war damals 64 Jahre alt, seine beiden Töchter 16 und 20. Der Schock und die Trauer überwältigten ihn, und er drohte in ein schwarzes Loch zu fallen. Aber er wusste, dass er weiterleben und mindestens funktio­nieren musste. «Das war ich ­meinen Töchtern schuldig.» Wie hatte doch der Notfallseelsorger gesagt: «Tragen Sie zu sich und Ihrer Familie Sorge und ernähren Sie sich regelmässig.»

Die jüngere Tochter sitzt mit am Tisch. Sie befindet sich in einem ­Zwischenjahr nach der Matura und wird im Herbst mit ihrem Psycho­logie­studium beginnen. Fragt man sie, was der Schicksalsschlag bei ihr ausgelöst habe, erzählt sie etwas stockend, dass der Tod der Mutter sie schwer ­getroffen habe. «Damals habe ich es nicht ertragen, wenn mich ein Lehrer darauf angesprochen und mit Mitleid behandelt hat.» Ihre Art, damit fertigzu­werden, sei stärker davon ­bestimmt worden, etwas Sinnvolles dagegenzusetzen. So habe sie ihre ­Maturaarbeit zum Thema «Suizid­prävention an Schulen» geschrieben und ein Podium dazu geleitet. Ihr ­Vater nickt aner­kennend: «Das fand ich unglaublich stark.»

Verzeihen ist schwer

Auch Bettina Widmer hat ihre Mutter durch Suizid verloren, als sie noch ein Teenager war. Noch am Tag vor dem «Horrorereignis», wie sie es nennt, habe die Familie einen Ausflug nach Luzern unternommen, den alle genossen hätten. «Auch meine Mutter hat viel gelacht.» Sie zeigt auf eine Bildergalerie über dem Esszimmertisch in ihrer Wohnung in Schüpfen BE: «Diese Fotos sind damals entstanden.»

Tags darauf gegen Mittag habe ihre Mutter, die wie viele ihrer Verwandten unter Depressionen gelitten habe, den Suizid in die Tat umgesetzt. Sie hat sich auf dem Estrich des Hauses erhängt – zu einem Zeitpunkt, an dem auch Bettina daheim war. Das habe sie ihr fast nicht verzeihen können. «Da hat meine Mutter immer gesagt, dass sie mich über alles liebt, und dann ­verübt sie in meiner Gegenwart Selbstmord.» Bettina Widmer hat mit den Tränen zu kämpfen und fährt sich hastig über die Augen. Immerhin habe ihre Mutter unter dem Kopfkissen ­ihres Betts einen kleinen Post-it-Zettel hinterlassen mit den Worten: «Ich kann nicht mehr. Bitte verzeiht. In Liebe, Mami.» So kurz dieser Abschiedsgruss auch gewesen sei, er habe ihr Halt in den schwersten Stunden gegeben.

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Es tat so gut, Menschen um mich zu haben, mit denen ich weinen konnte.

Bettina Widmer

In der Woche nach dem Suizid war die 16-Jährige, die inzwischen 29 und eben selbst Mutter geworden ist, auf unvorstellbare Art gefordert. Weil ihr Vater so traumatisiert gewesen sei, dass er die Beerdigung niemals hätte organisieren können, sei alles an ihr und ihrer Grossmutter hängengeblieben: Blumen kaufen, einen Text für die Abdankung schreiben, die Verwandten informieren. «Ich weiss nicht, wie ich das bewältigt habe», sagt sie heute.

Auch die folgenden Jahre habe der Suizid wie eine dunkle Wolke über ­ihrem Leben gehangen, und das in ­einer Phase, in der sie ihre Mutter ganz ­besonders gebraucht hätte. «Sie war der Elternteil, der mir extrem nahestand.» Umso stärker habe sie unter dem Verlust gelitten. Trotzdem wage sie heute zu behaupten, dass dieser familiäre Schicksalsschlag sie in ihrer Persönlichkeit gefestigt habe.

Geholfen hätten ihr dabei Gespräche mit ihr nahestehenden Menschen, mit Freundinnen oder ihrem Götti, dem Zwillingsbruder ihrer Mutter, der wie ein Vater für sie gesorgt habe. Wichtig sei auch der Austausch in der Selbsthilfegruppe Nebelmeer ­gewesen, wo sie sich jahrelang mit anderen Jugendlichen getroffen habe, die ihr Schicksal teilten. «Es tat so gut, Menschen um mich zu haben, die alles sofort verstanden, mit denen ich weinen, über die Bedeutung ­eines Abschiedsbriefs sprechen oder denen ich Bilder der Verstorbenen zeigen konnte.»

Trauerkultur offen leben

Auch Martin M. hat die Teilnahme an einer vergleichbaren Gruppe für Erwachsene, dem Refugium, geschätzt: «Es war für mich enorm wichtig, reden und den Schmerz mit ebenso ­Betroffenen teilen zu können.» Das sei gar nicht so selbstverständlich, weil es viele Menschen gebe, die sich scheuen, das Thema anzuschneiden. Sei es aus Rücksichtnahme oder weil es ihnen selbst zu nahegeht.

Katharina Keel nickt. Die 31-Jährige ist Familientrauerbegleiterin und weiss, was Martin M. meint. «Unsere Gesellschaft spricht viel zu wenig über den Tod. Dabei macht Verschweigen nichts ungeschehen.» Sie plä­diere sehr für eine offene und ­gelebte Trauerkultur, denn nur, wer durch seine Trauer hindurchgehe, sei auch fähig, den Verlust eines geliebten Menschen zu ­verarbeiten. «Trauer ist nicht das Problem, sondern die Lösung.»

Dazu gehören auch Rituale, die die Betroffenen meistens mit dem Todestag verknüpfen. So  nimmt Bettina Widmer jeweils am 16. November frei, fährt nach Salavaux VD an den Murtensee und besucht den Campingplatz, auf dem ihre Mutter immer so glücklich war. Dort wirft sie eine einzelne rote Gerbera-Blüte, die Lieblingsblume der Verstorbenen, in den See. «In diesem Moment bin ich ihr ganz nahe.»

Martin M. besucht drei- bis viermal monatlich das Grab seiner Frau. «Dieser Ort hat eine Bedeutung für mich.» Seine Tochter schüttelt den Kopf: «Für mich ist das kein schöner Ort.» Sie ziehe das «Gedenkbänkli» vor, eine Holzbank am Waldrand, die die Familie aufstellen liess.

Hilfe bei Suizidgedanken

Für Kinder und Jugendliche:

Für Erwachsene:

  • Die Dargebotene Hand, Telefon 143 (auch per E-Mail und Chat) oder auf 143.ch. Die Angebote sind vertraulich und kostenlos.
  • reden-kann-retten.ch
  • Hinterbliebene nach einem Suizid finden auch Unterstützung beim Verein Refugium: verein-refugium.ch 

Gesellschaftliches Engagement

Mit der Zeit taucht bei verschiedenen Betroffenen der Wunsch auf, einen «sinnvollen Beitrag», wie sie es nennen, zu leisten. ­Bettina Widmer spricht von Aufklärungsarbeit und meint damit ihre Website bettysbotschaft.ch, auf der sie Suizidprävention und Informationen für Jugendliche anbietet. Wie gross das Bedürfnis danach ist, merkte sie, als das Onlineportal «20 Minuten» in ­einem eindrücklichen zehnminütigen Video darüber berichtete: «Ich wurde von rund 100 Ratsuchenden bestürmt, die auch Trost und Ermutigung suchten.» Sie habe jede einzelne Anfrage beantwortet und stehe noch ­heute mit Einzelnen in Kontakt.

Martin M. engagiert sich auf seine Art. Er hat sich zum ehrenamtlichen Mitarbeiter bei einer Hotline für psychosoziale Pro­bleme ausbilden lassen. Diese ­Initiative, erklärt er, habe auch damit zu tun, dass er manchmal von dem Gefühl heimgesucht werde, «mindestens eine Mit­verant­wortung» am Tod seiner Frau zu tragen. «Dann hadere ich und studiere an Fragen ­herum, wie: Was wäre gewesen, wenn …?» Er seufzt: «Indem ich mich engagiere, versuche ich, mindestens einen kleinen Beitrag zur Gesundheit der Gesellschaft zu leisten.»

Betroffenen eine Stimme geben

Die Wanderaus­stellung «Leben, was geht!» handelt von ­Suizid und gibt Menschen, die als Ange­hörige oder Fach­personen davon betroffen sind, mittels ­Podcast eine Stimme.

Nächste Stationen:

  • Sarnen OW, noch bis 27. März
  • Zürich, 26. April bis 25. Mai
  • Schwyz, 4. bis 26. Juni
  • Luzern, 29. August bis 24. September
  • Altdorf UR, 15. Mai bis 4. Juni 2023

Die im Artikel Por­trätierten sind Teil der Ausstellung. Das ­Migros-Kulturprozent ­unterstützt die Ausstellung finanziell und leistet damit einen Beitrag zum ­Dialog über ein Thema, das nach wie vor ein Tabu ist, obwohl in der Schweiz täglich zwei bis drei Personen ­freiwillig aus dem ­Leben scheiden.

Infos: leben-was-geht.ch

Fotos: Sophie Stieger

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