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Die von nebenan

Text

Simona Sala

Erschienen

02.08.2022

Das Migros-Kulturprozent hat beim GDI die erste Studie zur Nachbarschaft in der Schweiz in Auftrag gegeben. Wir haben mit Studienleiter Jakub Samochowiec gesprochen.

Welche Ergebnisse haben Sie am meisten beeindruckt?

Vielleicht die Tatsache, dass ein grosser Teil der Schweiz ein eher distanziertes Verhältnis zu seinen Mitmenschen im Haus hat. Die Leute kennen sich, scheinen aber nicht das Bedürfnis nach engeren Kontakten zu haben. Gleichzeitig konnten wir aber auch Vertrauen und eine gewisse Zufriedenheit in Bezug auf die eigene Nachbarschaft feststellen. Diese Kombination aus Distanz und Vertrauen ist meines Erachtens ein sehr interessanter Aspekt, aus dem sich folgern lässt, dass die Latenz der Beziehungen, welche fast die Hälfte der Bevölkerung betrifft, einen grossen Handlungsspielraum birgt. Damit meine ich, dass dank des Vertrauens und trotz einer gewissen Distanz, die nachbarschaftlichen Beziehungen jederzeit aktiviert werden können. 

Haben Sie grosse kulturelle Unterschiede zwischen den Sprachregionen der Schweiz festgestellt?

Nein. Der grösste Unterschied, den wir beobachtet haben, ist, dass die lateinischen Kantone eine weitere Auffassung von Nachbarschaft haben, die nicht auf die nächste Tür beschränkt ist, sondern ein ganzes Viertel einschliessen kann. In der Westschweiz ist auch der Anteil derer, die ihre Beziehungen zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn intensivieren wollen, am höchsten. In der Deutschschweiz und im Tessin äusserten nur 15 Prozent der Befragten diesen Wunsch, in der Westschweiz jedoch 25 Prozent. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch im Alter der Befragten: Wir haben festgestellt, dass ältere Menschen mehr Wert auf Nachbarschaftskontakte legen und diese verstärken möchten.

Glauben Sie, das liegt daran, dass die jungen Leute heute weniger sesshaft sind? 

Ja, es muss auch berücksichtigt werden, dass die Menschen zwischen 25 und 40 zweifellos mobiler sind, abends häufiger ausgehen und generell weniger Zeit zu Hause verbringen.

Jakub Samochowiec

75 Prozent der Befragten geben an, ihre Nachbarinnen und Nachbarn genauso häufig zu treffen wie vor der Pandemie.

Jakub Samochowiec, Sozialpsychologe und Forscher am GDI erläutert einige der interessantesten Aspekte der Untersuchung.

Während der Pandemie wurde viel über die Nachbarschaft gesprochen. Während des Lockdowns wurden die Nachbar*innen auf einmal sehr wichtig, da sie die einzigen Menschen waren, die man sehen durfte. Was ist von all dem geblieben? 

Nicht viel. 75 Prozent der Befragten geben an, ihre Nachbarinnen und Nachbarn genauso häufig zu treffen wie vor der Pandemie. Und obwohl zehn Prozent angeben, sie häufiger zu treffen, sehen weitere zehn Prozent sie noch seltener. Langfristig hat sich nichts geändert, aber wir haben festgestellt, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass Freundschaft, auch wenn sie latent ist, jederzeit reaktiviert werden kann. Wie bereits erwähnt, handelt es sich um zwischenmenschliche Beziehungen mit einem hohen Entwicklungspotenzial. 

Ich möchte hinzufügen, dass die Nachbarschaftsbeziehungen während der Pandemie zwar wertvoll wurden, aber nicht immer einfach waren, eben gerade wegen der Natur der Pandemie, die eine soziale Distanzierung erforderte.

Haben Sie Unterschiede festgestellt zwischen Menschen, die in Miethäusern leben, und solchen, die in ihren Eigenheimen leben? Und zwischen den sozialen Schichten?

Der Unterschied ist relativ gering, aber wir haben festgestellt, dass Menschen, die in einem Mehrfamilienhaus leben (und als solches gilt ein Haus mit mehr als drei Wohnungen), einen grösseren Wunsch nach nachbarschaftlichem Kontakt äusserten als andere, was die Vorstellung widerlegt, dass viele so anonym wie möglich leben möchten. Die Untersuchung zeigt auch, dass diejenigen, die in einem Viertel mit Reihenhäusern oder in einem organisch gebauten und gestalteten Viertel leben, eher Kontakt zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn haben und auch zufriedener zu sein scheinen.

Wir haben also keine Unterschiede zwischen den sozialen Schichten festgestellt, aber es gibt auch keine Hinweise darauf, dass wohlhabende Menschen mit ihren Nachbarschaftsbeziehungen zufriedener sind.

Konnten Sie die Ergebnisse nach den verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten differenzieren? Sind die Beziehungen zwischen Menschen mit Migrationshintergrund enger?

Das uns zur Verfügung stehende Material reicht nicht aus, um da Unterschiede festzustellen. Ich glaube jedoch, dass diejenigen, die noch nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen (der Fragebogen wurde auf Italienisch, Deutsch und Französisch verteilt), wahrscheinlich nicht an einer solchen Umfrage teilnehmen werden, so dass uns dies im Moment entgeht.

Glauben Sie nicht, dass eine spezifische Studie in grossen Gebäuden mit Hunderten von Wohnungen interessant wäre?

Ja, obwohl ich glaube, dass die Ghettoisierung in der Schweiz nicht so stark ausgeprägt ist wie in anderen Ländern. Obwohl, und das muss gesagt werden, in den Wohnbaugenossenschaften zum Beispiel, einer schönen und grossartigen Sache, finden wir eine leichte Form der Ghettoisierung: Da es sich um sehr begehrte Wohnungen handelt, ist es oft für diejenigen mit den besten Verbindungen einfacher, Zugang zu ihnen zu bekommen, und sicherlich nicht für Menschen mit Migrationshintergrund.

Was ist das Leitmotiv, wenn es eines gibt, bei den Befragten?

Eine immer wiederkehrende Antwort war: «Es ist gut, so wie es ist.» Aber ich glaube, diese Aussage ist darauf zurückzuführen, dass viele Menschen nicht wissen, was sie verpassen. Ein Beispiel: Hätten wir die Bevölkerung im Jahr 2007 gefragt, ob sie ein Smartphone haben möchte, hätten die meisten wahrscheinlich mit Nein geantwortet und gesagt, dass alles gut ist, so wie es ist … weil sie nicht wussten, was sie verpassen. Obwohl es kein Leitmotiv ist, denke ich, dass wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass 30 Prozent der Befragten sich mehr Möglichkeiten und Orte der Begegnung wünschen.

Es zeigte sich, dass Orte benötigt werden, an denen sich die Nachbarschaft spontan treffen kann. Alles, was es dazu braucht, ist ein architektonisches Mittel, wie z. B. ein gepflegter gemeinsamer Aussenbereich, der geeignet ist, das zu fördern, was ich «ausserplanmässige Begegnungen» nennen würde. Diejenigen, die mehr Nachbarschaft praktizieren, sind auch zufriedener mit ihr. Spontane Treffpunkte fördern Kontakte, die zunächst unverbindlich sind, aber mit der Zeit enger werden können.

Das Quartier also als positives Konzept mit grossem Entwicklungspotenzial …

Ja, und dies wird durch mehrere Studien belegt, die im Zusammenhang mit anderen sozialen Krisen durchgeführt wurden. Kürzlich las ich über eine Studie aus Chicago über die Auswirkungen der Hitzewelle: Sie ergab, dass es in Vierteln, in denen sich die Bewohnerschaft untereinander kannte, weniger hitzebedingte Todesfälle gab. Gute Nachbarschaftsbeziehungen ermöglichen mehr gegenseitige Aufmerksamkeit. Auch in Chicago haben viele wegen der Hitze beschlossen, draussen unter freiem Himmel zu schlafen, aber das ist nur möglich, wenn man seine Nachbarn kennt und ihnen vertrauen kann. Ich glaube, dass diese Werte, wenn sie umgesetzt werden, das Potenzial haben, die Gesellschaft widerstandsfähiger gegenüber den Krisen zu machen, die sie jetzt und in Zukunft erleben wird.

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