Seit einem Jahr dominiert Corona unser Leben. Kommen Kinder besser durch eine solche Krise als wir Erwachsenen?
Die ganz Kleinen, die meist zuhause sind und auch keine Masken aufsetzen müssen, kriegen das noch nicht so mit. Kinder auf Stufe Kindergarten und Grundschule halten die Distanz- und Hygiene-Regeln ganz wunderbar ein. Wir Erwachsene freuen uns darüber, wie brav sie sind. Dabei sind wir uns nicht bewusst, welchen Preis sie dafür zahlen.
Welchen Preis bezahlen sie?
Jedes Kind wächst mit Bedürfnissen heran, wie beispielsweise mit dem Grosi kuscheln, mit anderen spielen, die Welt entdecken, einfach tun. Um die Corona-Massnahmen einzuhalten, muss ein Kind viele dieser Bedürfnisse unterdrücken. Das ist enorm anstrengend. Deshalb organisiert sich das menschliche Hirn so, dass hemmende Verschaltungen über die Netzwerke gelegt werden, die ein bestimmtes Bedürfnis hervorbringen. Dieses geht dann verloren.
Und dann?
Die Lust auf Nähe mit dem Grosi ist irgendwann einfach weg. Darf das Kind dann wieder zum Grosi, wird die Grossmutter feststellen, dass es unsicher ist und fremdelt. Reagiert auch das Grosi verunsichert und glaubt, ihr Enkelkind könne sie nicht mehr leiden, dann finden sich die beiden womöglich das ganze Leben nicht mehr. Ähnlich verhält es sich mit den Bedürfnissen, mit anderen zu spielen, die Welt zu entdecken, etwas lernen und Unbekanntes entdecken zu wollen. Es gibt Kinder, die nach fast einem Jahr im Lockdown sagen: Wir haben keine Lust mehr, mit unseren Freunden zu spielen. Wenn Eltern ihren Kindern nicht helfen, da wieder hineinzufinden, schaffen sie das womöglich nicht.
«Lapurla – Kinder folgen ihrer Neugier»
Kinder sind neugierig. So erschliessen sie sich die Welt. Dazu brauchen sie uns als Türöffnerinnen und Mitstauner. Lapurla, eine gemeinsame Initiative des Kulturprozents und der Hochschule der Künste Bern, hat u.a. auch eine Broschüre entwickelt, die voller Anregungen steckt. Hier die kostenlose Broschüre downloaden oder bestellen.
Jetzt mal angenommen, das gelingt nicht. Was würde aus den Kindern werden?
Angepasste Pflichterfüller, die keinen Eigensinn mehr besitzen, die so gut funktionieren wie digitale Roboter und Automaten. Das gab es vorher noch nie in der Menschheitsgeschichte, dass Kinder sich selbst zwingen mussten, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken, um es uns recht zu machen. Wehrt sich ein Kind beispielsweise gegen einen autoritären Vater oder gegen Verordnungen, bleibt es in der Kraft und spürt weiterhin, was es braucht.
Wie die Jugendlichen, die hierzulande gegen die Corona-Massnahmen rebelliert haben. In St. Gallen beispielsweise kam es vor den letzten Öffnungen zu Krawallen.
Manche Jugendliche tragen die Massnahmen nicht mehr mit. Sie haben bereits eigene Erfahrungen gesammelt und wehren sich dagegen, ihre Grundbedürfnisse zu ignorieren. Zudem versetzen die Geschlechtshormone ihr Hirn in eine solche Aufruhr, dass sie ihre Bedürfnisse gar nicht unterdrücken können.
Sie haben Verständnis für diese Jugendlichen.
Ich glaube, es nützt nichts, wenn man sich über ihre Ausbrüche beschwert und sie massregelt. Das macht die Sache nur noch schlimmer. Es wäre gut, würde man sein Verständnis dafür äussern, dass sie sich in einer katastrophalen Situation befinden. Und gemeinsam darüber nachdenken, was man machen kann. Es gibt ja mehr Freiräume, als man vielleicht denkt. Wenn die Partylokale zu sind, kann man sich auch in einem Steinbruch oder am See treffen und dort ein Popkonzert machen, mit dem entsprechenden Abstand zu den anderen. Wir müssen den Jugendlichen helfen, ihre Bedürfnisse zu stillen, unter Einhaltung der Regeln. Ich finde es ist in Ordnung, dass die sich wehren. Wir wollen ja auch keine bedingungslosen Mitläufer*innen und lauter Gleichgesinnte. Wir wollen eigensinnige Menschen, gerade in der Schweiz.
Wieso sagen Sie gerade in der Schweiz?
Schweizer sind schon ein bisschen eigenwillig. Ich nehme an, dass das mit der Geschichte zu tun hat. Die Schweizerinnen und Schweizer hatten niemals eine Ordnungsstruktur mit einem König an der Spitze und alle machten, was der König sagte. Die Kantone haben ihre jeweiligen regionalen Besonderheiten und entscheiden so einiges eigenverantwortlich. Deshalb sind die Schweizer – von aussen betrachtet - auch schwerer in einen Gleichschritt zu bringen...
... als die Deutschen?
In Deutschland wird immer alles so konsequent und bürokratisch von Oben nach Unten angeordnet und umgesetzt wie möglich. Im Augenblick ärgert man sich, dass sich nicht alle Bundesländer an die Massnahmen halten, welche die Regierung in Berlin verordnet. In jedem Bundesland ist es etwas anders. Angesichts der steigenden Infektionszahlen wird ständig über einen sofortigen und landesweiten Lockdown diskutiert. In manchen Gegenden ist schon zu, in anderen macht die Bevölkerung nicht mehr mit.
In manchen Bundesländern in Deutschland gab es fast ein Jahr lang keinen Präsenzunterricht. Wie kann man Kindern helfen, die nicht in die Schule dürfen und kaum Gleichaltrige treffen?
Eltern sollten ihnen ganz viele Möglichkeiten bieten, sich wieder lebendig zu fühlen. Zuhause singen, tanzen, musizieren, malen. Die Ideen von Lapurla (siehe unten) bieten hier ganz viele schöne Inspiration. Sobald es wieder möglich ist, sollten sich Familien wieder treffen. Das ist umso wichtiger, als Lehrpersonen und Schulbehörden versuchen werden, den ausgefallenen Unterricht nachzuholen. Eltern sollten darauf bestehen, dass man auf die Bedürfnisse der Kinder eingeht.
Sie sind ein vehementer Kritiker unseres Schulsystems. Was läuft aus Ihrer Sicht denn so falsch?
In unseren westlichen Schulen werden Kinder auch heute noch allzu oft zum Objekt gemacht. Zum Objekt von Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen. Dabei werden ihre wichtigsten zwei Grundbedürfnisse verletzt: Das nach Verbundenheit und das nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Können Kinder diese beiden Grundbedürfnisse nicht stillen, müssen sie diese entweder unterdrücken oder sie kompensieren das mit entsprechenden Ersatzbefriedigungen. Indem sie beispielsweise konsumieren oder gamen. Sarkastisch gesehen sind die Schulen, die wir in den westlichen Konsumgesellschaften haben, genau die richtigen. Denn sie erzeugen genügend Konsumenten. Zum Glück lassen sich nicht alle dazu verführen, vor allem ausserhalb der Städte gibt es noch viele Kinder und Jugendliche, die sehr naturverbunden sind und sich um irgendetwas kümmern, das ihnen am Herzen liegt.
Was fordern Sie?
Das Wichtigste, was in der Schule zu passieren hätte, wäre, dass dort kein einziges Kind seine ihm angeborene Freude am Lernen mehr verliert. Wenn die Schule sicherstellen kann, dass alle Kinder richtig gerne lernen, werden sie sich auch alles aneignen, was sie brauchen.
Welche Art Schulsystem schwebt Ihnen vor?
Eines, das den Kindern nicht vorschreibt, was sie zu lernen haben. Sondern danach fragt, was sie interessiert.
Gehts denn wirklich mit Freude alleine? Kinder können doch beispielsweise gerne eine Fremdsprache lernen, es aber lästig finden, Vokabeln zu pauken.
Da haben wir möglicherweise eine etwas ungünstige Vorstellung. Kinder zu zwingen, eine Fremdsprache zu lernen, verhindert, dass sie sich in diese Fremdsprache verlieben. Ich musste in der ehemaligen DDR, wo ich gross geworden bin, mindestens 10 Jahre lang Russisch lernen. Ich kann heute nichts mehr. Englisch habe ich nicht in der Schule gelernt, das habe ich mir nebenbei beigebracht. Ich mag diese Sprache und kann perfekt Englisch.
Sie haben einmal gesagt, als Kind hätten sie das Glück gehabt, dass ihre Eltern wenig Zeit für sie hatten. Wie haben Sie das gemeint?
Die konnten sich nachmittags nicht mit mir an einen Tisch setzen und mit mir darüber streiten, wie ich zu rechnen hätte. Dafür hatten sie keine Zeit. Und sie konnten mich auch nicht zu irgendwelchen Veranstaltungen bringen, wo ich etwas lernen sollte. Die waren froh, wenn wir mit andern Kindern nachmittags unterwegs waren. Mittags kamen wir nach Hause, schmissen unsere Ranzen in eine Ecke und gingen raus – da fing das Leben an. Wir zogen durch das Dorf und haben spielerisch entdeckt, wie das Leben geht. Wie man miteinander klarkommt, was es alles Tolles zu gestalten gibt, wie man Mutproben macht.
Gerald Hüther
Gerald Hüther (70) gilt als einer der bedeutendsten Hirnforscher Deutschlands. Die Erkenntnisse der Neurobiologie vermittelt er einem breiten Publikum in Vorträgen und populärwissenschaftlichen Büchern, viele über Kinder, die Schule und das Lernen. Seit 2015 ist er Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung. Sein neustes Projekt ist die Initiative www.liebevoll.jetzt
Schweizer Studien belegen, dass die Zeit, über die kleine Kinder ganz frei verfügen können, in den letzten 20 Jahren um bis zu einem Drittel zurückgegangen ist. Ist das ein Problem?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder die wichtigsten Lernerfahrungen machen, wenn sie Dinge spielerisch ausprobieren. Sie müssen ganz viele unterschiedliche Probleme lösen können. Wir sollten ihnen keine Steine aus dem Weg räumen, sondern ihnen besser noch welche hinschieben. Lernen sie Probleme lösen, gewinnen sie Sicherheit. Das Nervensystem arbeitet ähnlich wie das Immunsystem. Muss das Immunsystem keine Antikörper gegen Keime entwickeln, wird es träge. Auch die Fähigkeit, Probleme zu lösen, nimmt ab, wenn diese Fertigkeit nicht trainiert wird.
Was geschieht, wenn der Raum für freies Spiel fehlt?
Ist da kein Raum für Spiel, gibt es nur noch die Möglichkeit, den Anordnungen und Vorgaben der Erwachsenen zu folgen. Und die können sich auch geirrt haben. Um es dramatisch zu sagen: Im Nationalsozialismus hatten sie sich furchtbar geirrt und haben ihre Kinder gezwungen, auch kleine Nazis zu werden. Damals gab es schon Reformschulen. Hätten sich die Reformschulen durchgesetzt, wo das Freispiel und die Selbstverantwortung eine grosse Rolle spielt – hätte Hitler nie genug Soldaten für seinen Krieg gefunden.
Ihre Schulkritik ist auch eine Gesellschaftskritik.
Die Schule ist immer so wie die Gesellschaft. Damit sich die Schule ändern kann, muss sich erst die Gesellschaft ändern. Das geschieht im Moment – auch wegen der Corona-Problematik.
Hat Corona also auch Gutes?
Corona konfrontiert uns mit dem Umstand, dass wir das Leben nicht kontrollieren können. Weil nun so vieles nicht mehr geht, was die Menschen bisher gemacht haben, sind sie auf sich selbst zurückgeworfen. Sie können nicht mehr einkaufen, Kaffee trinken gehen, verreisen. Sie müssen sich mit der Frage beschäftigen, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Und was ihnen wirklich wichtig ist. Immer mehr kommen auf die Idee, dass es neben dem, was sie bisher für wichtig gehalten haben auch noch etwas anderes gibt. Etwas, das möglicherweise viel bedeutsamer ist.
Geben Sie uns doch bitte ein Beispiel.
Mich hat eine Mutter angerufen während des Lockdowns. Sie hat eine zweijährige Tochter, das Mariechen. Schon im ersten Lebensjahr ging das Mariechen in die Krippe, damit ihre Mutter arbeiten konnte. Alle anderen haben das auch so gemacht. Jetzt sei ihr Mariechen schon seit vier Wochen zuhause und sie hätte sich in ihr Mädchen verliebt. Sie freut sich auf jeden Tag mit ihr und ist richtig glücklich. Sie weiss noch nicht, wie sie es machen wird, aber sie wird ihr Mariechen nicht mehr jeden Tag in die Krippe bringen. Was für ihr Leben bedeutsam ist, hat sich für diese Mutter verändert. Wenn das sehr vielen Menschen so geht, verändert sich die Welt.
Sie haben die Initiative «Liebevoll jetzt!» gegründet. Was bezwecken Sie damit?
Viele sind so verunsichert in der aktuellen Krise, dass sie eine Rückenstärkung brauchen. Ideen, wie sie sich im Kleinen etwas Gutes tun können. Oder sich trotz Einschränkungen nahe sein. Eben etwas liebevoller zu sich selbst sein.
Sind Sie denn immer liebevoll zu sich?
Nein. Und ich bin es auch nicht immer gewesen. Aber ich habe gemerkt, dass es mir guttut. Und deshalb versuche ich es immer wieder. Ich gehe raus in die Natur und auch sehr gern in Museen und schaue mir an, was die Menschen vor uns so gemacht haben.
Sie sind Vater von zwei Töchtern: Was haben Sie richtig gut gemacht, was würden Sie uns mitgeben?
Das Problem ist, dass wir alle erst über Fehler lernen können, wie es richtig gewesen wäre. Meine Frau und ich haben das auch nicht so hingekriegt, wie wir das heute machen würden. Aber worauf wir beide stolz sind: Wir haben zwei selbstbestimmte und eigensinnige Töchter. Das ist im Zusammenleben nicht immer sehr einfach, aber ich bin froh, sie gehen ihren eigenen Weg und finden sich im Leben zurecht.
Foto/Bühne: Pipilotti Rist mit Kind: Collection on Display, Migros Museum für Gegenwartskunst. ©Karin Kraus, Lapurla Projekt BonBon
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