«Früher war Einsamkeit überlebenswichtig»
Erschienen
22.11.2021
Wie einsam ist die Schweiz? Eine Einschätzung der Einsamkeitsexpertin Noëmi Seewer.
17 Prozent unserer Befragten fühlen sich einsam. Ist das viel?
Im ersten Moment ist das eine hohe Zahl. Schaut man sie genauer an, sind es sechs Prozent, die sich sehr oft einsam fühlen. Das ist etwas mehr, als frühere Studien ergeben haben.
Vor allem Jüngere fühlen sich laut eigenen Angaben öfter einsam. Warum ist das so?
Einsamkeit kann grundsätzlich alle Altersgruppen betreffen. Verschiedene Studien zeigen aber, dass es «kritische Stellen» im Lebensverlauf gibt: im jungen Erwachsenenalter, mit rund 50 und von 80 Jahren aufwärts. Dann sind die Einsamkeitswerte am höchsten. Im jungen Erwachsenenalter passiert viel, etwa die Loslösung vom Elternhaus oder der Einstieg ins Berufsleben. Beides bringt Veränderungen im sozialen Netz.
Den nächsten kritischen Punkt erreichen 50-Jährige. Wieso?
Die Kinder ziehen aus, man wird vielleicht arbeitslos und findet nicht gleich einen neuen Job, man lässt sich scheiden oder trennt sich. Es kann viele verschiedene Gründe dafür geben.
Und dann der Klassiker: ab 80.
Genau. Ältere Personen sind eher in der Mobilität und in der körperlichen Gesundheit eingeschränkt. Todesfälle im engen Umfeld sind wahrscheinlicher.
Mir ist wichtig zu betonen, dass Einsamkeit zu empfinden an sich nicht negativ ist.
Noèmi Seewer (28) ist Doktorandin am Institut für Psychologie an der Universität Bern
Wann gilt jemand als einsam?
Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das aus einem Mangel entsteht. Wünsche ich mir Beziehungen und habe nicht genug davon, gibt es eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität. Das gilt nicht nur für die Anzahl der Beziehungen, sondern auch für deren Qualität. Wenn jemand viele, aber oberflächliche Kontakte hat, kann sie oder er sich trotzdem einsam fühlen.
Ein schmerzhaftes Gefühl.
Mir ist wichtig zu betonen, dass Einsamkeit zu empfinden an sich nicht negativ ist. Es ist ein wichtiges Gefühl, das uns signalisiert, wie es um unsere sozialen Beziehungen steht. Es ist wie bei anderen Bedürfnissen: Habe ich Durst, hole ich ein Glas Wasser. Einsamkeit ist eine Art sozialer Durst: Sie kann uns motivieren, aktiv zu werden und etwas zu unternehmen, damit wir uns wieder verbundener fühlen.
Trinkt man bei Durst nichts, verdurstet man. Kann man an Einsamkeit zugrunde gehen?
Vorübergehende Einsamkeit ist nicht gefährlich. Andauernde Einsamkeit kann hingegen schwerwiegende Folgen für die psychische sowie physische Gesundheit haben. Man findet immer wieder Zusammenhänge mit Depressionen und Angststörungen. Es gibt Belege dafür, dass andauernde Einsamkeit mit schlechter Schlafqualität und beschleunigtem kognitivem Abbau zusammenhängt und ein Risikofaktor für Herzinfarkte und Schlaganfälle darstellt.
Ist die Gesellschaft als Ganzes heute einsamer als früher?
Es gibt keine Daten, die das klar aufzeigen. Früher gab es mehr Grossfamilien, man lebte eher in einer Dorfgemeinschaft. Das verkleinerte eventuell das Risiko, weil es potenziell mehr Leute im näheren Umfeld gab, mit denen man sich verbinden konnte. Trotzdem gab es auch damals schon Menschen, die sich einsam fühlten. Einsamkeit ist ein uraltes Gefühl, lange war es überlebenswichtig. Zugehörigkeit zu einem sozialen Gefüge war wichtig, um Nahrung zu beschaffen, eine Unterkunft zu bauen und Kinder zu erziehen.
Hat uns Corona einsamer gemacht?
Studien zeigen, dass sich durch die Pandemie mehr Leute einsam fühlen. Doch sobald die strengeren Massnahmen gelockert werden, sinken die Zahlen wieder. Da wäre jetzt spannend zu wissen, wie es weitergeht.
In unserer Umfrage sagten 12 Prozent, dass sie sich unter vielen Leuten einsamer fühlen.
Die Studienlage spricht dafür, dass vor allem die Qualität von Beziehungen entscheidet, ob man sich einsam fühlt oder nicht. Deshalb kann man sich auch in einer festen, romantischen Beziehung einsam fühlen oder wenn man von vielen Menschen umgeben ist. Doch darüber zu sprechen, kann für Betroffene sehr schambesetzt sein.
Was kann man konkret gegen Einsamkeit tun?
Es ist schon sehr hilfreich, wenn man merkt, dass man sich einsam fühlt. Dann kann man sich überlegen, woran es liegt: An der Qualität oder der Quantität? Sobald man dazu mehr weiss, kann man versuchen, Beziehungen den Bedürfnissen entsprechend zu verändern. Wenn es alleine nicht geht, sollte man sich professionelle Unterstützung holen.
Was rät die Psychologie denn diesen einsamen Menschen?
Viele Menschen haben nicht hilfreiche Gedanken über ihre sozialen Situationen, die eigene Person oder andere Menschen. Diese gilt es zu verändern. Denn sie hindern einen, sich auf soziale Begegnungen einzulassen oder sie als positiv zu erleben.
Die Mehrheit gab in unserer Umfrage an, dass sie sich nicht einsam fühlt. Was kann man tun, damit es so bleibt?
Ich rate, sich einen «sozialen Konvoi» aufzubauen. Man ist selbst ist in der Mitte, und rundherum befinden sich die Menschen, die einen im Leben begleiten. Für den Aufbau und Erhalt dieses Konvois muss man sich Zeit nehmen.
Foto/Bühne: Stephan Schmitz
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