Ein Mann in einem schwarzen Anzug sitzt reglos auf einem alten Lederkoffer. Er sieht aus wie ein Reisender, der schon seit Ewigkeiten vergeblich auf seinen Zug wartet und schliesslich erstarrt ist. In Wirklichkeit ist die Figur kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine Skulptur des österreichischen Künstlers Markus Schinwald.
Das Werk ist zurzeit nirgendwo ausgestellt, sondern wird in einem grossen Kunstdepot aufbewahrt. Der erstarrte Reisende passt gut zu diesem geheimen Ort, an dem die Zeit still zu stehen scheint. «Wir tun hier alles Menschenmögliche, damit Skulpturen und Gemälde exakt so bleiben, wie sie die Künstlerinnen und Künstler erschaffen haben», erklärt Cris Faria. Der 45-Jährige ist ein sogenannter «Art Handler». Er weiss genau, wie man wertvolle Kunst fachgerecht aufbewahrt oder vor einem Transport so verpackt, dass sie auf keinen Fall Schaden nimmt.
Eine richtige Festung
Der Arbeitsplatz des Spezialisten liegt in einem weitläufigen Gebäude mit dicken Mauern und Panzertüren. Es könnte Bränden und sogar einem Erdbeben widerstehen. Verschiedene Schweizer Museen haben hier ihre kostbaren Sammlungen eingelagert. Faria betreut in einer fensterlosen Halle rund 1400 Werke von 700 Kunstschaffenden, die der Migros-Genossenschafts-Bund seit den 1950er-Jahren erworben hat. Manche Arbeiten haben mit den Jahren stark an Wert zugelegt und würden heute auf dem Kunstmarkt sechsstellige Beträge erzielen.
Das Klima im Raum ist genau eingestellt: Die Temperatur beträgt stets 20 Grad, die Luftfeuchtigkeit 50 Prozent. Mit einem kleinen Messgerät kontrolliert der Spezialist von Zeit zu Zeit den Sauerstoffgehalt. Die Luft ist hier so dünn wie auf 2000 Metern über Meer. Wenn abends die letzten Mitarbeiter das Gebäude verlassen haben, wird der Sauerstoff in den Hallen und Korridoren noch mehr abgesenkt. So würde ein Feuer von vornherein keine Nahrung finden und sofort erlöschen. Den Sauerstoff reduziert man aber auch, weil er mit der Zeit die Zersetzung heikler Werkstoffe begünstigt.
Vor Kunsträubern ist das Gebäude nicht etwa durch schwer bewaffnete Wächter, sondern vor allem durch Geheimhaltung geschützt. Nur wenige Leute wissen, welche Schätze sich hinter der unauffälligen Fassade verbergen. «Die genaue Adresse habe ich nicht einmal meiner Freundin verraten», sagt Faria. «Dabei ist sie Architektin und würde sich für die ausgeklügelte Konstruktion des Lagers interessieren.»
Der Experte geht durch die Lagerhalle des Migros Museums, die von Leuchtstoffröhren in weisses Licht getaucht wird. An verschiedenen Beispielen erklärt er, dass jedes Kunstwerk nach einer massgeschneiderten Lagerung verlangt: In einem mächtigen Gestell hängen grossformatige Gemälde, so etwa ein imposantes Werk des kalifornischen Künstlers Matt Mullican. Auf knallgelbem Grund hat er die Strassenkarte von Paris nachgezeichnet; aus Distanz wird daraus ein Muster, das vor den Augen zu flimmern scheint. Das grosse Gestell trägt im Fachjargon den umständlichen Namen «Gemälde-Verschiebeanlage».
Esel in der Kiste
Dann führt der Fachmann zu einer Arbeit des italienischen Starkünstlers Maurizio Cattelan: Ein ausgestopfter Esel trägt auf seinem Rücken einen alten Röhrenfernseher. Diese Skulptur hat Kunstkritiker schon zu vielen Deutungen angeregt – manche fühlten sich an den Esel von Maria und Josef aus der Bibel erinnert und fragten sich, ob der Fernseher unser neuer Erlöser ist. «Dieses Werk ist sehr bekannt, und wir überlassen es oft anderen Museen als Leihgabe», erklärt Faria. «Darum ist es schon für Transporte vorbereitet.» Der Esel und der Fernseher sind in eine massive Kiste verpackt, sorgfältig gepolstert und zusätzlich mit Gurten gesichert. Eine Schicht aus Dämmstoff schützt die Skulptur bei Transporten vor Temperaturschwankungen. Darum nennt man diese Art von Verpackung auch «Klimakiste».
Einzelne Arbeiten sind so heikel, dass sie sogar im perfekt justierten Klima der Lagerhalle leiden und irgendwann eine Restauration nötig haben. Das gilt zum Beispiel für die Arbeit «Hautraum» der Zürcher Künstlerin Heidi Bucher. Das riesige Werk besteht ganz aus bräunlich-gelbem Latex. Es sieht aus wie ein lebendiges Zimmer mit Wänden aus Haut. «Der Werkstoff ist mit der Zeit ausgetrocknet und droht rissig zu werden», sagt Faria. «Wir befeuchten den Latex nun mit destilliertem Wasser und Alkohol und erwärmen ihn mit Infrarotlampen.» Die Skulptur wird so für eine Reise fit gemacht, denn sie soll im Herbst im Münchner «Haus der Künste» zu sehen sein.
Surfer und Künstler
Wie ist der «Art Handler» eigentlich zu seinem ungewöhnlichen Beruf gekommen? Aufgewachsen ist er im brasilianischen Bundesstaat Bahia als Sohn einer HR-Managerin und eines Bauzeichners, der später aus seinem bürgerlichen Beruf ausstieg und Bauer wurde. Faria selber hatte schon früh eine ganz spezielle Beharrlichkeit, wollte den Dingen auf den Grund gehen. Seine Spielsachen zerlegte er oft in die kleinsten Einzelteile, um sie anschliessend wieder zusammenzusetzen. Als junger Mann entwickelte er dann viele Talente, war passionierter Surfer, liess sich zum Yogalehrer ausbilden und studierte in Genf Konzeptkunst. Zehn Jahre lang arbeitete er danach als freiberuflicher «Art Handler» für Schweizer Galerien, darunter das berühmte Unternehmen «Hauser & Wirth», das Niederlassungen in Zürich, London und New York hat. Vor drei Jahren wurde er dann vom Migros Museum für die Stelle im geheimen Kunstdepot angeworben.
«Es gibt für meinen Beruf keine offizielle Ausbildung», sagt Faria. «Man muss sich das nach und nach im Alltag aneignen.» Er ist mit den Jahren als «Art Handler» immer besser geworden. Inzwischen hat er aus dem Aufbewahren von Werken fast schon eine eigene Kunstform gemacht.
Migros Museum für Gegenwartskunst
In der aktuellen Ausstellung des Migros Museum für Gegewartskunst sind zahlreiche Werke aus der Sammlung zu sehen: migrosmuseum.ch.
Foto/Bühne: Désirée Good
Video: Shannon Zarman / Daniel Grieser
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