«Eigentlich ist die Idee gar nichts Neues, sondern uralt», sagt Architektin Kerstin Müller. Sie gilt als Pionierin des zirkulären Bauens in der Schweiz. Will heissen: Sie verwendet Bauteile wieder, anstatt sie wegzuwerfen.
«Das hat man früher auch schon gemacht, nur geriet es mit der Zeit in Vergessenheit», sagt die Geschäftsführerin des Start-ups Zirkular, das vom Migros-Pionierfonds unterstützt wird. Insbesondere während des Baubooms in den 1950er- bis 1970er-Jahren habe man wenig Wert auf Langlebigkeit gelegt.
Abfälle in der Bauwirtschaft in Zahlen
84
Prozent aller Abfälle in der Schweiz entfallen auf den Bau. Pro Jahr sind das umgerechnet gewaltige 75 Millionen Tonnen – ein Vielfaches der Siedlungsabfälle.
500
Kilogramm Abfall pro Sekunde verursacht der Abriss von Bauten.
5
Millionen Tonnen Rückbaumaterialien werden heute auf einer Deponie abgelagert oder in einer Kehrichtverbrennungsanlage verbrannt. Immerhin werden rund 70 Prozent wiederverwertet, da es sich dabei um wichtige Sekundärrohstoffe handelt.
62
Millionen Tonnen Material setzt der Bausektor (Hoch- und Tiefbau) jährlich um. Davon machen Beton, Sand und Kies 75 Prozent aus und 9 Prozent Brennstoffe. 17 Tonnen pro Person und Jahr beträgt der Schweizer Material-Fussabdruck. Für den Planeten verträglich wären fünf bis acht.
Forschen und tüfteln
Plant Müller einen Neubau, so denkt sie heute schon an morgen. Einerseits setzt sie Materialien mit einem geringen ökologischen Fuss-abdruck wie Lehm und Stroh ein. «Andererseits arbeiten wir mit dem, was schon da ist, und schauen, dass es auch in Zukunft wiederverwendet werden kann.»
Anstatt Holz-Elemente zu verkleben, werden sie zum Beispiel verzapft. «Wir steigen auch mal ins Archiv, um alte Techniken neu zu entdecken.» Hinzu kommt aufwendige Tüftelarbeit mit Forscherinnen und Handwerkern, um alte Bauteile aufzurüsten und heutigen Standards anzupassen.
Aber woher stammen die alten Teile, die zu neuen Gebäuden werden? «Manchmal fällt jemandem im Team ein Baugerüst auf, oder wir erfahren von einem Abbruch», erzählt Müller. Dann schwärmen die Bauteiljägerinnen und -jäger aus und erbeuten, was gerettet werden kann.
«Inzwischen werden wir auch angerufen, um Rückbaugebäude auf wiederverwendbare Bauteile zu untersuchen.»
Kosten halten sich die Waage
Neben dem Spürsinn erfordert zirkuläres Bauen vor allem Flexibilität. «Jeder Entwurf ist eine Art Kettenreaktion, die sich mit jedem erbeuteten Bauteil weiterentwickelt», so Müller. «Re-use»-Materialien seien zwar günstiger, die Planung jedoch viel aufwendiger.
Am Schluss entsprächen die Kosten denjenigen des konventionellen Bauens. Wie das Ergebnis aussehen kann, zeigt der Kopfbau der Halle 118 in Winterthur: Mit 70 Prozent wiederverwendeten Bauteilen war er die Initialzündung zur Gründung von Zirkular.
Fotos: Zirkular
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