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Eine Geflüchtete zeigt uns Zürich

Text

Michael West

Erschienen

14.04.2023

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Die Kolumbianerin Natalia Sierra wurde in ihrer Heimat an Leib und Leben bedroht und ist in die Schweiz geflüchtet. Hier hat sie eine neuartige Stadtführung erfunden: Als Fremde zeigt sie den Einheimischen Zürich.

Ganz in der Nähe des Zürcher Bahnhofs Hardbrücke prangt ein leuchtend buntes Bild auf einer tristen Betonfläche. Es zeigt eine Meerjungfrau, die übers ganze Gesicht strahlt. Aus ihrer blaugrünen Schwanzflosse schiessen rote Flammen. Die fröhliche Wassernixe scheint wie eine Rakete abzuheben.

«Ich habe keine Ahnung, wer dieses Graffiti gemalt hat», sagt Natalia Sierra. «Aber ich liebe das Bild, weil es so viel positive Energie hat.» Auf ihren Stadtführungen macht die 32-Jährige darum gern hier Station und zeigt den Teilnehmenden das Fabelwesen mit dem Feuerschweif.

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Natalia Sierras ­Stadt­führungen sind ­gefragt: Ganze Firmen­belegschaften nehmen ­daran teil.

Die Stadt auf neue Art erleben

Die junge Frau führt regelmässig Gruppen von Schweizerinnen und Schweizern durch Zürich. Immer wieder macht die Kolumbianerin auch halt bei Gebäuden, die mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun haben – etwa bei Asylunterkünften. Und sie erzählt von ihren Erfahrungen als Geflüchtete.

Die Idee für diese City Tours kam Sierra, nachdem sie im August 2016 in unser Land gekommen war. «Normalerweise zeigen Einheimische den Fremden ihre Stadt», sagt sie. «Plötzlich dachte ich, dass es doch auch umgekehrt sein könnte.» Ihre Rundgänge sind gefragt: Interessierte Privatpersonen, Kirchgemeinden und ganze Firmenbelegschaften buchen die Führungen.

Das Angebot ist dank Sierras Beharrlichkeit so erfolgreich, aber auch, weil es von Capacity tatkräftig unterstützt wurde. Dieser Verein hilft Geflüchteten in der Schweiz, ihre Talente zu entfalten und Startups aufzubauen. Er wird von Migros-Engagement im Rahmen des Programms «ici. gemeinsam hier.» gefördert. Wenn Natalia Sierra von ihren Führungen berichtet, wirkt sie mindestens so fröhlich und energiegeladen wie die Meerjungfrau beim Bahnhof Hardbrücke. Man würde nicht ahnen, dass sie vor wenigen Jahren in ihrer Heimat durch die Hölle gegangen ist.

Eine Geschichte der Resilienz

In Kolumbien tobt seit Jahrzehnten ein Bürgerkrieg zwischen der Armee, Drogensyndikaten, Guerillas und Milizen. «Dabei wiederholt sich ständig die gleiche Tragödie», erzählt die Geflüchtete. «Unschuldige Landbewohner werden vertrieben, verlieren all ihr Hab und Gut und landen verarmt in den Metropolen.»

Natalia, ihre Mutter und ihr Bruder setzten sich für die Rechte von vertriebenen Familien in Kolumbien ein. Sie beantragten 2016 in der Schweiz Asyl und bekamen es im November 2020 gewährt. Jetzt, wo sie in einer sicheren Situation sind, engagieren sie sich dafür, das Bewusstsein für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit zu schärfen.

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In meinem Schwimmkurs gibt es keinen Leistungsdruck.

Natalia Sierras

Die ersten Monate in unserem Land waren schwierig für die junge Frau. Mit ihrer Mutter und anderen Asylsuchenden lebte sie vorübergehend in einer Unterkunft in Volketswil ZH. Natalia war jedoch fest entschlossen ihren Kampf in eine Geschichte der Resilienz zu verwandeln.

Um sich zu integrieren und lokal zu engagieren gründete sie im Flüchtlingslager einen Kinoclub und arbeitete mit den Mitarbeitern der Unterkunft und der örtlichen Bibliothek zusammen um einen Fernseher und Filme zu beschaffen. Später entschied sie sich, ihre Ausbildung fortzusetzen, indem sie sowohl ihren Master machte als auch das von Capacity angebotene Trainingsprogramm für Unternehmerinnen und Unternehmer nutzte.

Schwimmen lernen ohne Druck

Nach Jahren des Mutes und der harten Arbeit hat Natalia Sierra hier Fuss gefasst und treibt immer wieder neue Projekte mit grosser Energie voran. Da sie ihr ganzes Leben lang eine leidenschaftliche Schwimmerin war, entschied sie sich, ihre unternehmerische Ausbildung zu nutzen, um gemeinsam mit erfahrenen Trainern ein neues Projekt namens Aloha Swim zu entwickeln, eine spezielle Schwimmschule für Kinder.

In einem kleinen Pool in einem Zürcher Gemeindezentrum unterrichtet sie nun eine multikulturelle Gruppe von zwei- bis zehnjährigen Mädchen und Jungen. «In meinem Kurs gibt es keinen Leistungsdruck», sagt Natalia Sierra. «Jedes Kind darf in seinem eigenen Tempo lernen. Aber am Ende soll sich jeder im Wasser so wohl fühlen wie eine Meerjungfrau.»
 

Jetzt Ideen einreichen

Mit dem Förder­programm «ici. gemeinsam hier.» setzt sich Migros-Engagement für die kulturelle Vielfalt in der Schweiz ein. Bis Ende Mai können neue Projektideen ­eingereicht werden: ici-gemeinsam-hier.ch

Fotos: Nicole Bachmann

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