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«Häsch chli Münz?»

Text

Deborah Bischof und Rahel Schmucki

Erschienen

23.02.2023

Person mit einem Karton-Schild hält dem Betrachter die Hand entgegen.

Sie stehen vor dem Einkaufszentrum oder am Bahnhof und fragen nach Kleingeld. Warum betteln Menschen in der Schweiz? Zwei Betroffene erzählen.

Kurz vor zwei Uhr kommt Tom mit seinem vollgepackten Velo auf dem Trottoir angefahren. Seine Haare unter der schwarzen Mütze sind noch nass, er hat gerade geduscht und sich frische Kleider angezogen.

Ein hellgrauer Pullover schaut unter der zu grossen, abgetragenen Jacke hervor, die Winterschuhe sind mindestens zwei Nummern zu gross. Er hat sie gerade eben bei einer Einrichtung für Obdachlose bekommen. «Ein echter Glücksfall», sagt der 55-Jährige und stellt sein Velo neben den Eingang eines Lebensmittelladens.

Hier steht er fast jeden Tag und «grüsst die Leute», wie er es nennt. «Man kann dazu auch betteln sagen, aber ich frage die Menschen nie direkt nach Geld, vor mir steht jeweils ein Becher. Viele Leute kennen mich mittlerweile auch und wissen, dass ich Geld brauche.» Manchmal verkauft er auch selbst gedruckte Postkarten oder T-Shirts, auch hat er seine Dienste schon fürs Taschentragen angeboten.

Bettler Tom mit seinem Velo vor einem Geschäft.

An seinem Stammplatz: Tom (55) steht fast jeden Tag vor dem gleichen Laden in Basel und hofft darauf, dass ihm die Leute etwas Geld geben. (Bild: Rahel Schmucki)

Ich frage die Menschen nie direkt nach Geld

Tom

Bettelverbot verstösst gegen Menschenrechte

Wie viele Leute in der Schweiz betteln, weiss niemand. In Basel-Stadt, wo Tom unterwegs ist, sind es je nach Jahreszeit zwischen 30 und 70 Personen, schreibt die Kantonspolizei. In fast allen Kantonen ist aufdringliches oder organisiertes Betteln verboten.

Einige, darunter Basel, verbieten es zusätzlich an bestimmten Orten, zum Beispiel rund um Bahnhöfe, in Parks oder öffentlichen Gebäuden. Seit September 2021 stellte Basel-Stadt deswegen 400 Bussen aus. Viele Kantone untersagen es auch ganz, wie etwa Zürich. Im Kanton werden jährlich rund 900 Personen wegen illegalem Betteln verzeigt.

Ein absolutes Bettelverbot verstösst jedoch gegen die Menschenrechte urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Januar 2021 im Fall einer bettelnden Roma in Genf. Eine Person müsse die Möglichkeit haben, ihre Notlage zum Ausdruck zu bringen und andere um Hilfe zu bitten. Viele Kantone müssen nun ihre Verbote überdenken.

Gibst du bettelnden Menschen Geld?

Niemand tut es gern

«Niemand hält gerne und einfach so die Hand hin. Dahinter steckt immer eine Geschichte», sagt Schwester Ariane Stocklin. Sie ist Gründerin des Vereins Incontro und beitreibt mit Pfarrer Karl Wolf niederschwellige Gassenarbeit im Zürcher Langstrassenquartier. «Es ist immer eine psychische, physische oder soziale Not, die die Menschen zu Bettlern macht», ergänzt Karl Wolf. Einige stünden unter Druck, sei es von einer Sippschaft, der Familie oder Leuten, denen sie Geld schulden. Andere hätten eine Sucht, die sie dazu bringe.

Tom lebt seit 25 Jahren auf der Strasse. Damals habe er auf einem Bauernhof gearbeitet, erst den Job verloren, dann seine Wohnung. «Da habe ich meinen Hund in den Veloanhänger gepackt und bin losgezogen.» Zuerst nach Zürich, irgendwann landete er auf dem Platzspitz.

Über seine Vergangenheit scheint er nicht gern zu sprechen, schweift immer wieder ab und berichtet von seinem früheren Hund, seinem Plan, einen Velocamper zu organisieren, eine Gassenzeitung herauszugeben. Aber einige Dinge erzählt er doch: In seinen Jahren in Zürich, als er mit den Drogen anfing, habe er zum ersten Mal gebettelt. «Wenn du etwas dringend brauchst, ist es einfach, nach Geld zu fragen», erklärt er und holt dann ein Tablet aus dem Rucksack, um Bilder von einem Velocamper zu zeigen.

Eine Kindheit ohne Eltern

Andreas (Name geändert) spricht auch nicht gerne über Vergangenes. An einem Donnerstagabend kurz vor sechs steht er an einer Ecke vor der Zürcher Bahnhofsbrücke. Ganz in Schwarz fällt er nicht auf, seine Kleidung ist nicht zerschlissen, er könnte glatt in der vorbeiströmenden Menge untergehen.

Er versucht, die Blicke der Leute auf dem Nachhauseweg zu erhaschen und fragt sie mit ausgestreckter Hand: «Häsch chli Münz vorig?» Viele reagieren nicht. Nur selten bleibt jemand kurz stehen, kramt ein paar Franken hervor, drückt sie ihm wortlos in die Hand und geht schnell weiter.

«Die meisten, die hier vorbeigehen, hatten eine schöne Kindheit», sagt er beim spontanen Gespräch. Diese Leute wüssten nicht, wie es sei, wenn die Eltern sich nicht für einen einsetzten, die Obhut lieber den Behörden überliessen. «Wenn du nicht im Heim warst, weisst du nicht, wie es da ist.»

Es sei nicht schlecht, nur sehr einsam. Und wer allein sei, werde entweder gehauen oder haue die anderen. Mit 14 Jahren flog er von der Schule, musste seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Erst im vergangenen Jahr schloss er die Lehre als Strassenbauer ab.

Betteln für Kind und Rechnungen

Warum dann noch auf der Strasse nach Geld fragen? «Viele Menschen, die betteln, haben ein Drogenproblem. Ich auch, aber zum Glück nur Gras.» Er brauche das Geld für die Stromrechnung eines Hauses, das sie gerade besetzten. «Und ich will meinem Kleinen etwas bieten.»

Sein Sohn sei vier, verbringe die Wochenenden bei ihm. «Er klettert sehr gerne. Doch der Eintritt in die Halle kostet.» Zahlt sich das Betteln aus? Andreas lacht. «Sehe ich aus, als würde es mir schlecht gehen?» Nicht wirklich. «Dann hast du deine Antwort.»

Obdachlose Person liebt mit einem Schlafsack auf einem Karton, daneben sitzt ein Hund.

Ab 2023 erhalten Menschen ohne festen Wohnsitz gleichviel Geld von der Sozialhilfe wie solche mit. (Symbol-Bild: Getty Images)

Von 10 bis 300 Franken

Die meisten Leute bettelten nur, wenn sie etwas Zusätzliches bräuchten, weiss Michel Steiner, Gassenarbeiter bei der Organisation Schwarzer Peter in Basel. «Für alles andere bekommen sie in der Regel Sozialhilfe oder eine Rente und Ergänzungsleistung.»

Dies gilt auch für Tom. 700 Franken waren es bis Dezember, weil er keinen festen Wohnsitz hatte. Ab 2023 sind die Menschen mit und jene ohne Wohnung gleichgestellt, deshalb ist der Betrag auf 1100 Franken gestiegen.

Das Geld reicht aber nicht für Toms Drogensucht. Beim Betteln oder «Mischeln», wie er es nennt, bekommt er an einem guten Tag 200 bis 300 Franken. Es waren aber auch schon nur 10 Franken. «Montage sind immer besser als Dienstage. Am Morgen geben die Leute meistens mehr als am Nachmittag. Und in der Adventszeit sind die Leute besonders spendabel», weiss Tom.

Wobei es immer auch darauf ankomme, wie es ihm gerade gehe. «Geht es mir gut, bekomme ich mehr. Geht es mir schlecht, bekomme ich fast nichts – obwohl ich es dringender bräuchte. Wieso, weiss ich auch nicht genau.» So oder so: Tom wäre froh, man würde ihn öfters fragen, was er braucht. «Im Advent habe ich einmal sieben Grittibänzen an einem Tag bekommen», erinnert er sich. Das sei nett gemeint, aber an diesem Tag habe er nicht alle Gebäcke essen können.

Café Surprise

Wenn du lieber anonym spenden willst, kannst du heute in vielen Cafés und Restaurants ein zusätzliches Getränk oder eine Mahlzeit bezahlen, die dann auf einer Strichliste festgehalten wird und von einer bedürftigen Person abgeholt werden kann. Eine Liste aller beteiligter Cafés findest du auf der Café-Surprise-Site. Die Aktion wird vom Migros-Kulturprozent unterstützt.

Foto/Bühne: Getty Images

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