Menschen mit und ohne Armutserfahrung im Dialog
Erschienen
01.05.2025

Über 700 000 Menschen in der Schweiz leben unter der Armutsgrenze und nochmals gleich viele nur knapp darüber. Dennoch ist Armut in der Schweiz wenig sichtbar. ATD Vierte Welt möchte dies ändern und den Austausch zwischen Menschen mit und ohne Armutserfahrung fördern. Das Migros-Kulturprozent unterstützt die schweizweite ATD-Dialog-Reihe. Zu Besuch beim ersten Anlass in Basel.
Text: Monica Müller
Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, der Abend lädt ein, draussen zu verweilen. Und doch steigen die verschiedensten Leute die Treppe hinunter, ins Gemeindezentrum Matthäus in Basel. Sie alle gehen zum ATD-Dialog, einem Anlass, der Menschen mit und ohne Armutserfahrung miteinander ins Gespräch bringen soll.
Acht runde Tische stehen bereit, an die sich die Teilnehmer*innen des Dialog-Events setzen können. Die Organisator*innen bitte alle, sich zu Unbekannten zu gesellen. Schliesslich gehe es darum, mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen. An jedem Tisch sitzen Vertreter*innen der NGO «ATD Vierte Welt Schweiz», Menschen mit Armutserfahrung und solche ohne. Noch ist nicht klar, wer welche Rolle innehat.
Die Veranstalter*innen heissen alle willkommen und stellen sich kurz vor. ATD Vierte Welt Schweiz führt durch den Abend zusammen mit der Winterhilfe und Caritas Basel. Die Abkürzung ATD steht für «All together for dignity», zu Deutsch: gemeinsam für die Würde aller. Die Organisation besteht seit 1957, ist in rund 100 Ländern vertreten, seit 1967 auch in der Schweiz. Ihr Ziel ist es, Armut in der Schweiz besser zu verstehen und gemeinsam mit den verschiedensten Akteuren zu überwinden. Das Projekt wird von der Berner Fachhochschule und der Fachhochschule Nordwestschweiz wissenschaftlich begleitet.
Bereits abgeschlossen ist das Forschungsprojekt «Armut - Identität - Gesellschaft, das von 2019 bis 2023 durchgeführt wurde. Daran beteiligt waren Menschen mit Armutserfahrung, aus der Berufspraxis und aus der Wissenschaft. Mit der Methode des so genannten «Wissens-Kreuzens» haben sie gemeinsam erarbeitet, was es heute in der Schweiz bedeutet, in Armut und Abhängigkeit von Unterstützung zu leben und wie sich die Verbindung zwischen Fürsorge und Zwang entwickelt hat.
Und schon geht es los in die Arbeit in den Gruppen. Auf den Tischen liegen Bilder mit diversen Sujets: Eine parkierte Vespa, ein voller Aschenbecher, ein Flugzeug am Himmel. Alle sind eingeladen, ein Bild auszusuchen, das für sie etwas mit Armut zu tun hat. Jemand wählt das Bild eines eisernen Gartentors. Sie sagt: «Für Armutsbetroffene sind viele Türen geschlossen.» Eine andere Person wählt das Foto eines Rodeos: «Man kann schnell aus dem Sattel fliegen, ist machtlos, der Aufprall ist hart.»

Foto: Nida Errahmen Ajmi, ATD Vierte Welt Schweiz
Über die Aussagen zu den Bildern ergeben sich erste Gespräche. Ein Mann mit Armutserfahrung zeigt sich positiv überrascht über die einfühlsamen Voten der Runde. Eine Frau mit Armutserfahrung streicht hervor, dass es zu unterscheiden gelte zwischen denjenigen, die von oben nach unten abstürzten. Und denjenigen, die immer an der «roten Linie» lebten. Sie sei von diesem Leben körperlich und geistig erschöpft. Nun werden alle gebeten, ein Vorurteil über Armutsbetroffene auf einem Zettel zu notieren. Die Vorurteile werden nach der Pause Thema sein.
Als nächstes beschäftigen sich die Gruppen mit Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt «Armut - Identität - Gesellschaft». Sie sind auf laminierten Zetteln festgehalten. Jeder und jede darf sich zwei Einsichten aussuchen, die er oder sie später vorstellen soll. Auf den Karten stehen Dinge wie: «Einsamkeit von Menschen in Armut», «Empfinden von Menschen in Armut, nicht als vollwertige Personen gesehen zu werden», «Mangel an Zeit und viele bürokratische Auflagen in Institutionen», «Schwierige Voraussetzungen für Kinder von Menschen in Armut».
Die Aufgabe der Gruppe ist es, diese Einsichten zu ordnen und zu gruppieren. Erst wird ganz still. Dann legen die ersten ihre Karten ab, schieben sie zu anderen hinzu. Beim Ordnen kommt man sich in die Quere – und ins Gespräch. Seit dem Austausch über die Bilder ist das Eis gebrochen und die Leute am Tisch diskutieren angeregt. Mit Filzstiften werden Linien und Pfeile aufs Papiertischtuch gemalt.
Die Expertin und der Experte in Sachen Armut am Tisch äussern sich wie folgt: «Ich bin unendlich müde. Es ist ein ungleicher Kampf», sagt sie. «Es wird immer die Eigenverantwortung ins Feld geführt, dabei ist die Selbstbestimmung nicht gegeben», sagt er. Anschliessend sind die Gruppen eingeladen, einige Blitzlichter mit der grossen Runde zu teilen. Auch hier gehen die Voten ans Herz: «Auf den Betroffenen lastet ein enormer Druck», «Der Graben in der Gesellschaft ist tief», «Wie nur bringt man Leute dazu, sich zu solidarisieren?»

Foto: Nida Errahmen Ajmi, ATD Vierte Welt Schweiz
In der folgenden Pause stärken sich alle mit Getränken und Snacks und reden miteinander. Danach geht es weiter in neuen Gruppen. Die Organisator*innen haben die notierten Vorurteile geclustert und so neue Teams gebildet. Deren Aufgabe ist es nun, über diverse Vorurteile Diskussionen zu führen. So muss beispielsweise die eine Hälfte eines Tischs die Aussage «Armut hat es schon immer gegeben» vertreten. Die andere Hälfte muss argumentieren, dass sich die Zukunft durchaus ändern liesse.
Das Rollenspiel ist nicht ohne: Manchen ist das Thema zu ernst, als dass sie dazu eine ihnen fremde Meinung vertreten mögen. Andere lassen sich lustvoll in das Spiel ein und sagen Sätze wie: «Wir von der Kirche brauchen die Armen, sie sind unser Geschäft», «Haben mehr Leute einen besseren Lebensstandard, belastet das die Umwelt», «Bessere Bildung? Um Himmels Willen, was wollen wir mit mehr Doktorierten in diesem Land?»
In der grossen Runde äussern sich anschliessend einige zu den Rollenspielen. Viele fanden die Diskussionen frustrierend, da so gepoltert wurde. Eine Erkenntnis: «Es ist schwierig, wirklich über Inhalte zu sprechen, wenn einfach Behauptungen in die Welt gesetzt werden», analysierte ein Mann. Und jemand fasste die Diskussion so zusammen: «Die einen mussten sich rechtfertigen, die anderen hingegen wurden nicht hinterfragt.»

Foto: Nida Errahmen Ajmi, ATD Vierte Welt Schweiz
Schnell löste sich die Diskussion von den Rollenspielen und viele äusserten ihre persönlichen Meinungen. Ganz still wurde es erneut im Saal, als eine Armutsbetroffene ihren grossen Wunsch mit den Anwesenden teilte: «Ich wünsche mir, dass unsere Kinder nicht diskriminiert werden. Wir müssen die Kinder unterstützen und fördern – das ist das Wichtigste.»
Nach der letzten Diskussion gaben die Gastgeber*innen einen Ausblick, wie es mit dem Projekt weitergeht. Viele weitere solche Dialoge sind geplant, ebenso Nachbefragungen der Wissenschaftler und weiterführende Workshops. Als die Teilnehmer*innen des Dialog-Events aus den Katakomben stiegen, war Nacht geworden.
«In diesem Ansatz liegt viel Kraft»
Wie hast du den Anlass persönlich erlebt?
Anna Frey: Mit 65 Personen nahmen drei Mal so viele Teilnehmende an dieser ersten Veranstaltung der Dialogreihe teil wie erwartet. Ein klares Zeichen dafür, dass das Thema auf Interesse stösst und es diesen Dialog zwischen Menschen mit und ohne Armutserfahrung braucht. Mich hat besonders beeindruckt, wie in kurzer Zeit zwischen vielen verschiedenen, sich unbekannten Menschen ein Dialog und Austausch auf Augenhöhe entstand. Ich habe viele Gedanken und Anregungen mit nach Hause genommen, um meine eigenen Vorstellungen über Armut in der Schweiz zu hinterfragen und auch in meinem Umfeld zu thematisieren.
Warum unterstützt das Migros-Kulturprozent die ATD-Dialoge?
Armutsbetroffene sind oft mit Vorurteilen konfrontiert und erleben soziale Ausgrenzung. Darum fördert das Migros-Kulturprozent den Dialog zwischen Menschen mit und ohne Armutserfahrung. Denn persönliche Begegnungen machen das Tabuthema Armut greifbarer und stärken das Verständnis für die Ursachen und die Auswirkungen von Armut. Das fördert die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für den das Migros-Kulturprozent sich engagiert.
Was am Konzept hat dich besonders überzeugt?
Die Stimmen von Menschen, die in Armut leben, werden in Debatten zum Thema kaum einbezogen und gehört. Dabei wären doch gerade sie die Expert*innen dafür – sie erleben schliesslich Tag für Tag, was Armut bedeutet. ATD Vierte Welt engagiert sich stets zusammen mit den Menschen, die Armut selbst erleben. An den Dialog-Veranstaltungen entsteht so ein Austausch zwischen Menschen mit und ohne Armutserfahrung, die sonst wenig Berührungspunkte haben. Darin liegt viel Kraft.
Inwiefern ist der Ansatz von ATD allenfalls auch für andere Projekte zukunftsweisend?
Das Thema Partizipation rückt seit Jahren immer mehr in den Vordergrund: Adressat*innen von sozialen Projekten sollen nicht einfach «Hilfeempfänger*innen» sein, sondern sich mit ihrer Lebenserfahrung beteiligen und mitreden können. Viele Organisationen und Akteure im Sozialbereich wollen vermehrt partizipativ arbeiten – ATD Vierte Welt geht diesen Weg bereits seit vielen Jahren konsequent. Ihr Ansatz ist daher auch für andere Projekte im Einsatz gegen Armut zukunftsweisend.

Anna Frey
Anna Frey ist Themen- und Projektleiterin Soziales bei der Direktion Gesellschaft & Kultur beim Migros-Genossenschafts-Bund. Sie ist unter anderem verantwortlich für den Schwerpunkt Armut und Teilhabe und hat am ersten ATD-Dialog in Basel teilgenommen. Der Ansatz scheint ihr zukunftsweisend.
Gemeinsam gegen Armut in der Schweiz
Das Migros-Kulturprozent engagiert sich für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Es fördert unter anderem Menschen und Organisationen, die neue Wege im Umgang mit Armut in der Schweiz gehen.
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