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«Wir brauchen eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit kontroversen Meinungen»

Text

Jörg Marquardt

Erschienen

04.09.2024

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Unsere Gesellschaft öffnet sich rasant – das kann auch überfordern. Der Soziologe Ganga Jey Aratnam ordnet die GDI-Studie zur Vielfalt für uns ein.

Vielfalt ist heute in aller Munde. Was verstehen Sie darunter?

Ganga Jey Aratnam: Mit dem Begriff versuchen wir, einen neuen Blick auf die Verschiedenheiten in unserer Gesellschaft zu werfen. Oft geht das Unterscheiden zwischen Gruppen mit der Abwertung der einen Gruppe einher. Die Idee der Vielfalt hilft dabei, die Unterschiede auf einer anderen Ebene zusammenzubringen und ihnen das Trennende zu nehmen.

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Früher herrschte eine Vielfalt des Nebeneinanders. Heute müssen wir eine Vielfalt des Miteinanders hinbekommen.

Ganga Jey Aratnam (51) Schweizer Soziologe mit Forschungsschwerpunkten im Bereich Migration und Reichtum. Zuletzt lehrte er an der Universität Basel. Seit 2023 ist er für ein grosses Beratungsunternehmen tätig. 

Haben Sie ein Beispiel?

Rothaarige wurden früher stark diskriminiert. Inzwischen spielt die Haarfarbe als Unterscheidungsmerkmal kaum noch eine Rolle. Wir hätten viel erreicht, wenn uns etwas Ähnliches bei der Herkunft, der Religion oder der sexuellen Orientierung gelänge.

Wie vielfältig ist die Schweiz heute?

Wir leben in einem Land, das einen starken Schub an Vielfältigkeit erlebt hat – und weiter erlebt. Das betrifft nicht nur die Zuwanderung von Menschen aus der ganzen Welt, sondern auch soziale Errungenschaften wie die Emanzipation der Frauen oder die Ehe für alle. Seit den 1990er Jahren hat sich die Gesellschaft stark geöffnet.

Woran machen Sie das fest?

Etwa daran, dass in 52 Prozent aller Eheschliessungen mindestens eine Person keinen Schweizer Pass hat. Damit ist Vielfalt inzwischen in zahlreichen Haushalten angekommen – übrigens auch auf dem Teller. Meine Schweizer Schwiegermutter kann ein Lied davon singen.

Wieso?

Bei Familientreffen hält sie sich jetzt mit Speckwürfeln zurück, weil mein Schwager eine Afghanin geheiratet hat – und weil ich Vegetarier bin. (lacht)

Laut GDI-Studie sagen zwei Drittel der Befragten, dass die meisten Menschen bei allen Unterschieden sehr vieles gemeinsam hätten. Gehört Vielfalt zur DNA der Schweiz?

Ja, am Anfang der Staatsgründung steht die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt. Es gibt einen Willen, die Unterschiede zu einer Einheit zu bringen. Zudem hat die Schweiz immer Sorge getragen zu den Schwächsten der Gesellschaft.

Trotzdem sorgt die wachsende Vielfalt auch für Spannungen.

Früher herrschte eine Vielfalt des Nebeneinanders. Heute müssen wir eine Vielfalt des Miteinanders hinbekommen. Einige befürchten den Verlust bereits erkämpfter Rechte, etwa die Gleichstellung der Frauen. Wir müssen neu aushandeln, wer wir sind.

Kann es auch «zu viel» Vielfalt geben?

Der schnelle Wandel kann überfordern. Für den Zusammenhalt ist es darum wichtig, dass sich alle an den universellen Menschenrechten orientieren – auch diejenigen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen. Zugleich müssen wir die Bevölkerung für den Schutz von Minderheiten sensibilisieren, zum Beispiel für Rollstuhlfreiheit im öffentlichen Verkehr.

Was braucht es, damit dieser Prozess gelingt? 

Die Schweiz hat gelernt, Vielfalt als Chance zu begreifen. Sonst wären wir nicht das Innovationsland Nummer 1. Wir brauchen aber auch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit kontroversen Meinungen. Die GDI-Studie hat gezeigt, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung Homosexualität ablehnt. Das müssen wir aushalten. Entscheidend ist, dass wir uns alle aktiv an der Demokratie beteiligen.

Kleine Gesten für mehr Miteinander

26 Kantone, vier Landessprachen und viele verschiedene Kulturen und Lebensweisen – Vielfalt hat in der Schweiz Tradition. Damit sie auch eine Zukunft hat, brauchen wir Menschen, die sich für ein Miteinander statt nebeneinander einsetzen. Welche kleinen Gesten können das Miteinander im Alltag stärken? Erzähl es uns und gewinne im Rahmen der #vielfaltsinitiative des Migros-Kulturprozents einen von 100 Migros-Gutscheinen im Wert von CHF 100.–

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