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Wenn das Kinderzimmer leer bleibt

Text

Kristina Reiss

Erschienen

13.05.2022

Adrian und Gabriela ­Thomann bei sich zuhause auf einem Sofa sitzend.

Wie geht man damit um, wenn es mit eigenen Kindern nicht klappen will und man die Lebensplanung neu ausrichten muss? Zwei Betroffene und eine Therapeutin berichten.

Irgendwann gab es den Moment, in dem Gabriela Thomann (40) wusste: «Das ist der letzte Versuch, schwanger zu werden, ich kann nicht mehr.» Sieben Jahre lang war der Kinderwunsch für sie und ihren Mann Adrian (45) das alles bestimmende Thema. Jeden Monat hofften sie neu, jeden Monat wurden sie enttäuscht. Dauernd musste sich Gabriela Hormone spritzen, die sie zunehmend schlechter vertrug, bis sie permanent Schmerzen hatte.

Die Thomanns aus der Nähe von Winterthur ZH haben alles versucht, was in der Schweiz an Kinderwunschbehandlungen möglich ist. Zunächst die sogenannte Insemination, bei der Samenzellen des Mannes direkt in die Gebärmutter der Frau übertragen werden. Die Krankenkassen bezahlen drei Versuche. Später InvitroFertilisation (IVF), die künstliche Befruchtung, bei der Ei- und Samenzellen im Reagenzglas zusammenkommen. Diese Behandlung muss selbst bezahlt werden. Kosten: 4000 bis 10‘000 Franken pro Versuch.

Laut Bundesamt für Statistik wurde hierzulande jedes vierzigste Kind, das auf die Welt kommt, mit einer In-vitro-Fertilisation gezeugt. Das sind nicht viele. Bedenkt man allerdings, dass nur rund 35 Prozent der Behandlungen auch erfolgreich sind, gab es im Jahr 2019 hunderte von Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch. In etwa 20 Prozent der Fälle liegt die Ursache bei der Frau, in 20 Prozent beim Mann, in 15 bis 30 Prozent bei beiden, und beim Rest ist man schlicht im Unklaren.

In die Öffentlichkeit schaffen es jedoch vor allem die Erfolge der Reproduktionsmedizin. Gleichzeitig entsteht mit dem medizinischen Fortschritt der Eindruck, ungewollte Kinderlosigkeit müsse heute nicht mehr sein. Dies macht es für Betroffene noch schwieriger, darüber zu reden. Die wenigsten gehen damit so offen um wie Gabriela und Adrian Thomann.

Das Gefühl versagt zu haben

Nina* (44) zum Beispiel möchte lieber anonym bleiben. Acht Jahre haben sie und ihr Mann alles versucht, um schwanger zu werden. Acht Jahre drehte sich fast jedes ihrer Gespräche darum. Eingeweiht war nur der engste Kreis. An Nina nagte das Gefühl, versagt zu haben: «Ich habe mich nicht mehr als richtige Frau gefühlt, das wollte ich nicht mit allen teilen.» Im Büro erfand sie Ausreden, weshalb sie zum Arzt musste oder es ihr nicht gut ging. Sie liess Verabredungen platzen, weil der Zeitpunkt mit dem Setzen der nächsten Spritze zusammenfiel und die Kollegen nicht eingeweiht waren.

Ich habe mich nicht mehr als richtige Frau gefühlt, das wollte ich nicht mit allen teilen.

Gabriela ­Thomann

Auch die Thomanns belastete die Situation sehr: «Irgendwann zehrt das alles enorm an dir», sagt Gabriela Thomann. «Du bist in dieser Sache schon als Paar unterwegs, aber auch allein», fügt Adrian Thomann an. «Kam ich abends nach Hause, wusste ich nie, in welcher Stimmung ich meine Frau antreffe; meistens war sie traurig und deprimiert.» Der Bauingenieur, der heute ein Bauunternehmen leitet, lenkte sich in dieser Phase mit reichlich Arbeit ab, während Gabriela viel Zeit in Kinderwunschforen verbrachte: «Zeitweise hatte ich das Gefühl, nur dort Menschen zu finden, die mich verstehen.» Es knirschte gewaltig in der Beziehung. Sie  entschieden sich für eine Paartherapie, beschlossen, «wir wollen zusammenbleiben», und unternahmen einen dritten und letzten IVF-Versuch. Sollte dieser scheitern, so die Abmachung, würden sie auf Weltreise gehen. Wenige Monate später packten sie die Koffer. Neun Jahre ist das nun her.

Livia Umiker mit ihrem Hund.

Livia Umiker musste lernen, wieder mehr an ihre eigenen Bedürfnisse zu denken.

«Es gilt, sich selbst wieder mehr ins Zentrum zu stellen», sagt Livia Umiker. Auch bei der 37-Jährigen bestimmte der Kinderwunsch sechs Jahre ihren Alltag. Bei wichtigen Entscheidungen überlegte sie immer, ob diese auch noch mit Nachwuchs passen. Im Keller lagerte sie ausgediente Babysachen von Freunden. Als sie und ihr Mann beschlossen, es nicht weiter zu versuchen, entsorgte Livia alles, verkaufte das auf Familie ausgelegte Auto und schaffte ein neues an, «nur für mich und meine Bedürfnisse».

Der Körper wehrt sich

Bei Nina und ihrem Mann fiel die Entscheidung, den Kinderwunsch loszulassen, spontan, mitten in der vierten IVF-­Behandlung. Nina hatte mit körperlichen Abwehrreaktionen zu kämpfen, sie blickte auf den Plastiksack mit ihren ganzen Medikamenten und wusste plötzlich: «Es geht nicht mehr, wir müssen damit aufhören.» Doch Gefühle lassen sich nicht auf Knopfdruck abstellen. Noch Monate danach zermarterte sich Nina den Kopf: «Haben wir wirklich alles versucht?» Heute, vier Jahre später, kann sie solche Gedanken schneller von sich schieben. Auch den Anblick von Frauen mit Babys hält sie nun aus.

Gabriela Thomann wiederum hat sich Gebärmutter und Eileiter entfernen lassen. Zum einen, weil für sie ein erhöhtes Risiko besteht, an Eierstockkrebs zu erkranken. Zum anderen, weil damit das Kinderthema endgültig erledigt ist. «Über diesen finalen Entscheid bin ich megafroh.»

In 99 Prozent aller Fälle ist der Mann schneller darüber hinweg. Sein Leiden ist eher das Leiden seiner Partnerin.

Regula Simon

Ein endgültiger Abschied von einem Lebenswurf gelingt nicht von heute auf morgen, weiss Regula Simon (53). Sie ist Coach und bietet Seminare für ungewollt kinderlose Frauen an. «In 99 Prozent aller Fälle ist der Mann schneller darüber hinweg», so ihre Erfahrung. «Sein Leiden ist eher das Leiden seiner Partnerin.» Sie findet das verständlich, schliesslich sei die Frau von Natur aus näher dran. Ihr Körper erinnert jeden Monat mit der Menstruation: «Hallo, Kinder produzieren wäre angesagt!» Hinzu komme das Umfeld. Freundinnen, die nach und nach alle Mütter werden und dann oft nur noch ein Thema kennen. Männer würden dies weniger erleben.

Das ist auch Adrian Thomanns Erfahrung: «Unter Kollegen tauscht man sich zwar über die Basics des Vaterseins aus, aber dann kehrt man zum gemeinsamen Hobby zurück.» Gabriela Thomann hingegen sah ihre Freundinnen seltener und wenn, dann meist mit Nachwuchs im Schlepptau. Tiefere Gespräche waren so kaum noch möglich. «Das machte mich oft traurig.» Thomann wurde auf Regula Simon aufmerksam, die in St. Gallen Treffen für kinderlose Frauen organisierte und realisierte bei den Zusammenkünften, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein war. Neue Kontakte entstanden und Gabriela wurde klar: «Ich hatte mein Leben so extrem auf ein Kind ausgerichtet, dass mein eigenes gar mehr nicht stattfand.» Sie gab ihren Beruf als Lehrerin, der ideal für Teilzeitarbeit gewesen wäre, auf und absolvierte eine Weiterbildung zur Interior Designerin.

Gabriela und Adrian Thomann

Im Zimmer, das eigentlich fürs Kind gedacht war: Gabriela und Adrian Thomann

«Kinder gehören einfach dazu»

«Das Schwierigste ist, sich vom Ohnmachtsgefühl zu befreien. Und von dem Gedanken, dass ein Leben ohne Kinder sinnlos ist», weiss Therapeutin Regula Simon. In ihren Coachings ergründet sie mit Betroffenen, was hinter dem Kinderwunsch steckt. Obwohl die Familiengründung ein weitreichender Entschluss ist, seien sich viele ihrer tatsächlichen Beweggründe nicht bewusst. «Manche möchten mit Nachwuchs einfach zur Gesellschaft gehören», analysiert Regula Simon. «Andere wünschen sich eine tiefe Bindung. » Auch Gabriela Thomann hat nie hinterfragt, ob und warum sie Kinder will. «Das gehörte einfach zu meinem Lebensplan.» Heute findet sie: «Unsere Gesellschaft ist da sehr fremdgesteuert.» Ihr Mann ergänzt: «Kinder gehören irgendwie dazu. Zumindest wird einem dies von Aussen so suggeriert.»

Livia Umiker ist vor allem froh, «dass der wahnsinnige Druck weg ist, den ich mir sechs Jahre lang Monat für Monat gemacht habe. Ich hatte das Vertrauen in meinen Körper, der nicht so funktionierte, wie ich wollte, verloren. Ich konnte es kaum aushalten, wenn andere schwanger wurden.» Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute schätzt sie es, flexibel zu sein und nur wenige Verpflichtungen zu haben.

Auch Nina hat ihren Frieden gefunden. Wird sie heute gefragt «Haben Sie Kinder?», geht ihr die Antwort leicht von den Lippen. Nur eine Sache wüsste sie gerne: «Wie hätte es wohl ausgesehen, unser Kind? Hätte es die blauen Augen von meinem Mann? Meine braunen Haare?»
 

*Name von der Redaktion geändert

 

Ungewollte Kinderlosigkeit

Was betroffenen hilft

  • Als Paar offen miteinander reden. Geduld mit sich und seinen Gefühlen haben
  • Sich bewusst sein: Jeder geht anders damit um. Dem anderen zugestehen, dass er auf seine Weise leidet und trauert
  • Sich früh professionelle Hilfe holen (Therapeuten, Coaches, etc.)
  • Dem Umfeld klar kommunizieren, was man sich wünscht: «Verheimlicht uns nicht aus falschem Schutz, wenn ihr schwanger seid. Sagt uns das am besten früh und direkt.»
  • Sich fragen, was hinter dem Kinderwunsch steht
  • Einen Plan B haben

Was Betroffenen nicht hilft

  • Ungebetene Tipps von Aussenstehenden wie «Ihr müsst euch nur mal entspannen, dann klappt das schon.» 
  • «Ihr könnt ja adoptieren», diese Option ist für viele Betroffene keine Alternative zum schwanger werden. Zumal der Prozess oft ebenfalls langwierig und nervenzehrend ist.


Weitere Infos zu Workshops, Treffen und Coachings für (ungewollt) kinderlose Frauen: kinderfreilos.ch

Fotos: Anna-Tina Eberhard

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