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Hier wohnen Alt und Jung unter einem Dach

Text

Pierre Wuthrich

Erschienen

05.10.2022

Frau und Mann reden miteinander

In Lancy (GE) teilen sich Studierende und Senioren ein Gebäude in guter Harmonie. Erstere kommen in den Genuss einer Mietreduktion, sofern sie Zeit mit Zweiteren verbringen.

Ein neuer Stadtteil bedeutet manchmal auch neue Wohnformen. Das ist bei der Siedlung L’Adret der Fall, die vor zwei Jahren beim Bahnhof von Lancy GE aus dem Boden gestampft wurde. Hier wird in einem siebenstöckigen Gebäude ein einzigartiges Wohnmodell erprobt. 130 Senioren und 28 Studierende im Alter zwischen 20 und 97 Jahren leben hier in einem gewollten Generationenmix zusammen, alle in den eigenen vier Wänden.

Wer einzieht, muss gewillt sein, sich aktiv mit den anderen Mitbewohnern auszutauschen. Alle haben eine Charta unterzeichnet, in der sie sich dazu verpflichten, ihre Ressourcen zu teilen und durch gemeinsame Aktivitäten mit Vertretern der anderen Generation Kontakte zu knüpfen – die Studierenden erhalten eine Mietreduktion von 100 Franken, wenn sie im Gegenzug fünf Stunden pro Monat mit Senioren verbringen

Um den Austausch zu fördern, verfügt jede Ebene über Gemeinschaftsräume. Das kann ein Musikzimmer oder Bastelraum sein, eine TV- oder Spielecke, aber auch eine Waschküche, ein Fitnessraum oder eine grosse Terrasse. 
 

Baptiste Paracchini

Indem ich den Senioren beim Einkaufen helfe oder mit ihnen spazieren gehe, habe ich eine andere Beziehung zu älteren Menschen entwickelt und sehe nun auch meine Grosseltern mit anderen Augen.

Baptiste Paracchini (27) Student der Psychomotorik an der Hochschule für Sozialarbeit in Genf

Baptiste Paracchini wohnt seit 2020 hier. «Wenn man das Gebäude betritt, weiss man sofort, was hier los ist», erklärt er. Vom Erdgeschoss aus höre man dank des grossen, offenen Treppenhauses zum Beispiel, ob im vierten Stock jemand Klavier spiele, sagt der Student. Das Treppenhaus rege regelrecht zu Begegnungen an. «Jede Wohnung ist jedoch perfekt isoliert, und sobald ich meine Tür schliesse, höre ich nichts mehr», so Paracchini.

Dieses Architekturkonzept ermöglicht es also, zusammenzuleben und gleichzeitig seine Unabhängigkeit zu bewahren. Um das zu ermöglichen, zogen die Eigentümer beim Bau neben den Architekten auch einen Soziologen bei. 

«Wir befinden uns hier weder in einem Studentenwohnheim noch in einem Pflegeheim oder einem Gebäude mit Seniorebetreuung, sondern in einem Mietshaus», stellt Sandrine Grether, verantwortliche Koordinatorin bei L’Adret, klar. «Wir sind auch keine Institution, die Animationsprogramme anbietet.» Will heissen: Die Mieterinnen und Mieter müssen sich die gemeinsamen Aktivitäten selbst ausdenken. Und sie sind dabei ziemlich kreativ: von der Hilfe beim Wäschewaschen, der Dachgärtnerei oder dem Einrichten eines Smartphones über Filmabende und Brunches bis hin zu Sommerfesten und Weihnachtsmärkten.

Sarojini Pillay

Als ich hier ankam, organisierte ich Aktivitäten mit den Studenten, so etwa Gespräche in meiner Muttersprache Englisch – natürlich bei einem Cup of Tea.

Sarojini Pillay (72) Krankenschwester im Ruhestand

Leben und sterben

Paradoxerweise hat die Pandemie die Entwicklung dieser generationenübergreifenden Begegnungen nicht gebremst. Ganz im Gegenteil. «Die Studierenden, die keinen Präsenzunterricht mehr hatten, blieben im Gebäude. Und da diese Zeit auch mit dem Einzug vieler Senioren zusammenfiel, konnten sie ihnen dabei helfen und sie gleich kennenlernen. Das hat geklappt wie am Schnürchen», erinnert sich Sandrine Grether.

Sarojini Pillay, eine unternehmungslustige Rentnerin, pflichtet dem bei. «Ich fühle mich wohl. Ich bin hier zu Hause und kann unabhängig bleiben.» Es sei sehr beruhigend zu wissen, dass sie bei Bedarf Hilfe per Knopfdruck anfordern könne. Denn nebst den Studierenden steht im Haus an sieben Tagen pro Woche rund um die Uhr auch eine Krankenschwester zur Verfügung.

Man setze alles daran, dass Mieter bis zum Schluss in ihren eigenen vier Wänden leben können, sagt Grether. Im Haus werden daher eine ganze Reihe von Dienstleistungen – häusliche Pflege, Physiotherapie und weiteres – angeboten. So wird das Gebäude zum Wohnort und Ort des Lebensendes – und das alles in einer Atmosphäre des Respekts und Wohlwollens zwischen den Generationen. Man könnte es für Utopie halten. Dabei ist es einfach eine neue – und glückliche Realität.

Photos: Niels Ackermann / Lundi13

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