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Geflüchtete führen durchs Museum und geben eine neue Sicht auf alte Kulturen

Text

Ralf Kaminski

Erschienen

15.10.2020

Die geflüchtete Kurdin Razaw Ibrahim im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen

Das Begegnungscafé im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen ermöglicht ein Kennenlernen von Geflüchteten und Einheimischen – und eröffnet spannende Perspektiven auf historische Ausstellungsobjekte. Das Migros-Magazin war bei der ersten Ausgabe dabei.

Razaw Ibrahim ist sehr nervös. Vor ihr befindet sich eine kleine Gruppe neugieriger Museumsgäste, neben ihr eine 2000 Jahre alte steinerne Handmühle aus der Region Schaffhausen, über die die 22-jährige Irakerin etwas erzählen möchte. Noch nie zuvor hat sie so etwas gemacht: vor Leuten aufzutreten, in einer Sprache, die sie immer noch lernt.

Die Nervosität ist so offensichtlich, dass ihr eine Frau aus dem Publikum Mut zuspricht. Zu Beginn ringt Razaw noch um Worte, doch als es dann um ihren persönlichen Bezug zu dem Objekt im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen geht, kommt sie in Schwung. «Mich erinnert die Mühle an meine Kindheit im Irak, meine Grossmutter hat damals auf sehr ähnliche Weise Bulgur und Couscous hergestellt», erzählt sie. Doch diese Art des Mahlens sei auch in ihrer Heimat vorbei, erklärt sie auf Nachfrage aus dem Publikum, heute würden dafür meist Maschinen benutzt.

Razaw Ibrahim ist eine von sieben Geflüchteten, die an jenem regnerischen Samstagnachmittag in Schaffhausen Gäste durch das Museum führen und Objekte aus ihrer Perspektive vorstellen. Es ist die erste Ausgabe des Begegnungscafés im Museum, das künftig alle sechs Monate stattfinden soll und zum Ziel hat, Geflüchtete und Einheimische miteinander ins Gespräch und zusammenzubringen. Zwei Tage zuvor, bei der Generalprobe, war noch völlig offen, wie viele Menschen dieser Anlass anlocken würde.

«Es können fünf sein oder 100, wir wissen es schlicht nicht», sagt Jwan Ali (39), der das Projekt mit der Museumsmitarbeiterin Bettina Bussinger (44) und der Kulturvermittlerin Prisca Senn (53) rund ein Jahr lang vorbereitet hat. Gemeinsam mit
den Geflüchteten erarbeiteten sie dieses kulturelle Angebot.

Beitrag zur Willkommenskultur

Ali ist selbst vor 20 Jahren aus dem syrischen Kurdengebiet geflüchtet und hat seit Kurzem den Schweizer Pass. Er arbeitet als Jugendbetreuer beim Haus der Kulturen in Schaffhausen. Dieses kümmert sich um die Integration von Flüchtlingen und veranstaltet schon länger ein Begegnungscafé, dessen Grundidee nun ins Museum verlagert wurde.

«Es gab einige Geflüchtete, die von Anfang an begeistert von der Idee waren, andere musste ich in längeren Gesprächen davon überzeugen», sagt Ali. «Einige sind stark mit sich selbst beschäftigt und sorgten sich wegen der sprachlichen Hürden.»

Bei ihm selbst habe es zehn Jahre gedauert, bis er in der Schweiz erstmals ein Museum betreten habe. «Ich möchte, dass andere früher eine Chance auf diesen kulturellen Zugang haben.» Für Ali gehört dies zur Willkommenskultur. Und bei den Geflüchteten, die hier mitmachen, kommt dies auch gut an: «Sie fühlen sich respektiert und willkommen.»

Das Museum sei sofort interessiert gewesen, als die Anfrage gekommen sei, sagt die wissenschaftliche Direktionsassistentin Bettina Bussinger. Es sei vor allem darum gegangen, ein Konzept zu entwickeln, das funktioniere. «Wir wollen Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen, gegenseitiges Lernen und Kennenlernen und frische Perspektiven auf etablierte Ausstellungsobjekte.»

Eine Bereicherung für beide Seiten

Das Museum zu Allerheiligen ist eins von sieben, das beim Projekt «conTAKT-museum» beteiligt ist, das vom Migros-Kulturprozent initiiert wurde. Die Idee dazu entstand im Nachgang der Flüchtlingskrise von 2015 im Bereich Soziales des Kulturprozents. Dessen Ziel ist es, mit seinen Aktivitäten und Projekten den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken und den Dialog ermöglichen. «Zu Beginn lag der Fokus auf Geflüchteten, inzwischen haben wir ihn aber auf Menschen mit viel und wenig Migrationserfahrung erweitert», sagt Marlen Rutz (40), Projektleiterin Soziales beim Kulturprozent. Seit 2019 gibt es erste Veranstaltungen mit Publikum.

«Einerseits sahen wir bei den Museen ungenutztes Potenzial für Begegnung und Austausch, andererseits kamen diese auch auf uns zu, weil sie sich öffnen und weitere Publikumsschichten ansprechen wollten», erklärt Rutz die Kooperation. Zu Beginn habe es gewisse Berührungsängste gegeben. «Aber wir boten fachliche Unterstützung und förderten die Vernetzung zwischen beiden Seiten, sodass ein Vertrauensverhältnis entstehen konnte.»

Rund 30 Migrantinnen und Migranten haben bisher aktiv an der Ausgestaltung des Programms von «conTAKT-museum» teilgenommen, über 200 als Gäste. Und die Erfahrungen sind sehr positiv. «Es ist eine bereichernde Horizonterweiterung.» Zudem sei die Schwelle, ins Museum zu gehen, bei den Geflüchteten dadurch deutlich gesunken. «Ihre Teilnahme ist eine Bereicherung auch für die Gesamtgesellschaft», sagt Rutz, «es ist ein Begegnungs- und Bildungsprogramm, von dem alle Seiten profitieren.»

Termine für weitere Begegnungscafés im Museum zu Allerheiligen: 7. März 2021 und 25. September 2021

Kulturvermittlerin Prisca Senn über das conTAKT-museum.

Lobsang Chungpotsang ist einer dieser Geflüchteten. Er unterhält sich gerade angeregt mit einem älteren Paar. Der 20-jährige Tibeter ist seit fünf Jahren in der Schweiz und spricht bereits sehr gut Deutsch. Dagmar Pletscher (65) und Hansruedi Stierlin (75) wiederum haben einige Zeit in Bhutan gelebt, erzählen ihm davon und wollen wissen, wie er denn hier in der Schweiz lebe. «Dieses Begegnungscafé ist eine grossartige Idee», sagt Stierlin, «es ist spannend, die Museumsobjekte mit anderen Augen zu sehen.» Zudem sei es interessant, sich mit Menschen wie Lobsang zu unterhalten, ergänzt Pletscher.

Doch dann muss der junge Mann los, es wird nun Zeit für seine Führung. Er hat sich das Diorama Kesslerloch für seine Präsentation ausgesucht; dieses zeigt eine Höhle mit Steinzeitmenschen. «Ich finde es spannend, mir vorzustellen, wie die Menschen damals gelebt haben», erzählt er. «Es waren Nomaden, wie meine tibetischen Vorfahren es bis vor 40 Jahren waren.»

Der geflüchtete Tibeter Lobsang Chungpotsang vor einem steinzeitlichen Diorama im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen

Lobsang Chungpotsang vor dem Diorama Kesslerloch, das eine Szene aus der Steinzeit darstellt. Foto: Julius Hatt

Lobsang war 14 als ihm seine Mutter eröffnete, er solle ins Ausland gehen. Seine Familie befand sich aus politischen Gründen in Schwierigkeiten. Er wäre dennoch am liebsten geblieben, liess sich dann aber überzeugen. «Aber zu Beginn war es hart, ich habe viel geweint. Und ich vermisse meine Mutter sehr.»

 

An die Reise erinnert er sich nur noch vage. «Es waren mehrere Flüge und Zugfahrten mit einem wortkargen Begleiter, der mir bis fast zum Schluss nicht sagte, wohin wir gehen.» Schliesslich landete Chungpotsang in der Schweiz, wo er nach einem halben Jahr in Asylunterkünften schliesslich zu seiner Tante in Neuhausen ziehen durfte.

Er hat Schweizer Schulen besucht, lernt weiterhin eifrig Deutsch, spielt gerne Fussball und Handygames – und möchte eine Lehre als Pfleger machen. Doch das ist wegen seines Status schwierig: Sein Asylgesuch ist abgelehnt worden. Da aber Tibeter derzeit nicht in ihr Heimatland ausgewiesen werden, kann er dennoch bleiben. Er plant ausserdem, ein Härtefallgesuch zu stellen und hofft sehr, dass es klappt. «Ich würde wirklich gerne hier bleiben, leben und arbeiten.»

 

Abenteuerliche Fluchtgeschichte

Der Asylantrag von Razaw Ibrahim und ihrem Mann ist noch in Bearbeitung. Das kurdische Paar aus dem Irak hat eine abenteuerliche Reise hinter sich, die sie vor zwei Jahren über die grüne Grenze von der Türkei nach Griechenland führte und weiter bis nach Italien. «Von dort wollten wir mit dem Auto nach Deutschland, wurden aber in der Schweiz verhaftet. Heute sind wir froh, dass wir hier gestoppt wurden.»

Die beiden leben in einer Unterkunft in Schaffhausen, zusammen mit fünf anderen Flüchtlingsfamilien, haben ein eigenes Zimmer, teilen sich aber Küche und Bad. Beide lernen Deutsch und hoffen, eine Ausbildung machen zu können. «Ich möchte Apothekerin werden», sagt Razaw. Ihr Mann, der im Irak Bäcker war, zielt auf irgendeine kreative Arbeit mit den Händen. «In ein paar Jahren können wir hoffentlich arbeiten und haben eine eigene Wohnung», sagt die junge Frau – Kinder sind vorerst keine geplant.

Im Publikum von Razaws Führung befindet sich Andrea Külling (43), die schon seit Längerem eine eritreische Geflüchtete begleitet und im Alltag unterstützt. «Wir wollten eigentlich gemeinsam kommen, aber sie musste arbeiten.» Külling findet den Anlass super. «Mich interessieren die Menschen, die hier auftreten, fast noch mehr als ihr Zugang zu den Museumsobjekten. Es ist eine schöne Möglichkeit, einander kennenzulernen und besser zu verstehen.»

Sie zieht nun weiter ins Café, wo gratis Getränke und selbstgebackene Kuchen zum Verweilen und Plaudern einladen. Dies wird auch rege getan – denn der Ansturm der Gäste auf den Anlass hat alle Erwartungen übertroffen. «Wir wurden regelrecht überrollt», sagt Jwan Ali staunend. «Ein wunderbarer, vielversprechender Start», kommentiert Prisca Senn. Da die Führungen wegen Corona nur in kleinen Gruppen stattfinden können, werden sie mehrmals durchgeführt, damit alle der über 100 Gäste eine Chance haben, wenigstens bei einer der drei Gruppen dabei zu sein.

Auch Lobsang und Razaw sind mehrfach im Einsatz. Und jedes Mal fällt es ihnen ein wenig leichter. «Beim ersten Mal war ich so nervös, dass mir mittendrin plötzlich schwindlig wurde», erzählt Lobsang und lacht. «Danach lief es sehr viel besser.»

Razaw erging es genauso – und sie freut sich, dass sie sogar ein paar neue Worte gelernt hat. «Ein sehr schöner Nachmittag.» Beide werden wohl auch beim nächsten Anlass wieder dabei sein. «Wenn ich kann, auf jeden Fall», sagt Lobsang. «Ich habe
jetzt hier im Museum schon so viel Zeit verbracht, dass ich mich fast ein bisschen wie zu Hause fühle.»

 

Impressionen

Zahlreiche Besucher im Museumsshop im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen

Der Anlass im Museum zu Allerheiligen zieht viel Publikum an. Foto: Julius Hatt

Foto/Bühne: Julius Hatt

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