Einkommensgleichheit: Wie ungleich ist die Schweiz?
Erschienen
28.06.2022
Die Chancen, in der Schweiz sozial aufzusteigen, sind dank guter Bildung intakt. Deshalb habe die Einkommensungleichheit in den vergangenen 100 Jahren nicht zugenommen, wie eine Analyse von Steuerdaten, Nachnamen und Bildungsstatus zeigt.
Im Märchen ist es einfach: Das arme Mädchen Cinderella heiratet den reichen Adligen. In den USA gibt es den Traum des Tellerwäschers, der sich zum Millionär hocharbeitet. Wie funktioniert der gesellschaftliche Aufstieg in der Schweiz? Existiert die soziale Mobilität noch? Oder wird die Ungleichheit auch in der Schweiz grösser, so wie in anderen Ländern? Melanie Häner, Bereichsleiterin Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern, hat diese Fragen untersucht. Sie hat dafür kantonale Steuerdaten der vergangenen 100 Jahre (siehe Box zu Steuerdaten) sowie die Bedeutung von Nachnamen analysiert. Sie kommt zu überraschenden Ergebnissen.
Die Familie und der Name?
Haben keinen Einfluss auf den Status: Bei den Habsburgern gab der Name den sozialen Status vor. In anderen Ländern wie den USA oder in Skandinavien ist das zum Teil heute noch der Fall. Nicht so in der Schweiz. «Die familiäre Zugehörigkeit spielt eine untergeordnete Rolle für den eigenen Erfolg», sagt Häner. Die Eltern sind zu 40 Prozent dafür verantwortlich, welchen sozialen Bildungsstatus ihre Kinder haben, die Grosseltern zu weniger als 20 Prozent, und die Urgrosseltern haben gar keinen Einfluss mehr auf den Erfolg oder den Status ihrer Urenkel. Die hohe Schweizer Durchlässigkeit sei auf die Migration, die Durchmischung und eine gesellschaftliche Ordnung zurückzuführen, die sozialen Aufstieg durch Fleiss und Leistung ermögliche, erklärt Häner. Man nennt das den Buddenbrook-Effekt: Bei der Handelsfamilie in Thomas Manns Roman war nach der vierten Generation nichts mehr vom früheren Erfolg übrig. Häner hat für die Studie die Nachnamen aller Geburts- und Taufregister im Kanton Baselstadt seit 1550 sowie die Nachnamen aller Studenten und Studentinnen der Uni Basel seit deren Gründung analysiert.
Sozialer Aufstieg durch Heirat?
Nicht in der Schweiz: Auch die Heirat ist eine Möglichkeit, gesellschaftlich aufzusteigen. Cinderella lässt grüssen. In der Schweiz funktioniert es allerdings nicht wie im Märchen. Die Steuerdaten zeigen gemäss Häner, dass Ehepartner vor der Heirat ein ähnliches Einkommen haben. Das heisst: Gutverdiener heiraten Gutverdienerinnen (und umgekehrt). Wer weniger im Portemonnaie hat, vermählt sich mit seinesgleichen (siehe Grafik). Pikant: Dieses selektive Heiratsverhalten erhöht die Ungleichheit in der Gesellschaft. «Die Einkommensungleichheit liegt deshalb um 10 Prozent höher, verglichen mit der Situation, in der die Paare zufällig heiraten würden», erklärt Häner. Bei den 20 Prozent Meistverdienenden ist der Effekt so gross, dass die steuerliche Umverteilung aufgrund der Progression ihn nicht auszugleichen vermag. Erst ab den Top 5 Prozent entfaltet die Progression die angestrebte Wirkung, sodass der Steuereffekt den Effekt der Partnerwahl ausgleicht.
Auch wenn man die Vermögen anschaut, gilt das Sprichwort «Gleich und Gleich gesellt sich gern». Reiche heiraten demnach Reiche, weniger Betuchte heiraten unter sich. Die Ausprägung ist ebenfalls an den oberen und unteren Enden der Vermögensverteilung am stärksten.
Gute Bildung?
Der Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg: Weil die Paare aber eben nicht von Haus aus reich sind, spiele das Vermögen der Familie (Eltern, Grosseltern) eine viel geringere Rolle als das Vermögen der Paare selbst, so Häner. Die Ehepartner in spe arbeiten sich zuerst hoch und machen dann auf dem Heiratsmarkt eine bessere Partie. «Das zeigt sich auch darin, dass sich die Paare neben dem Vermögen und Einkommen ebenfalls bezüglich Bildung ähnlich sind», so Häner. Die Arbeitertochter werde zuerst Ärztin und heirate danach einen Arzt. «Das Bildungssystem in der Schweiz nimmt die Schlüsselrolle in der sozialen Durchlässigkeit ein», ist Häner überzeugt. Wer eine Lehre absolviere, könne sich an Hochschulen und höheren Fachschulen weiterbilden, oder eine akademische Karriere einschlagen. «Die Aufstiegschancen sind deshalb intakt», so Häner. Dass Akademikerkinder an Unis übervertreten sind, sei zwar ein Fakt. «Die Bildungsrendite – wie viel man aus der Ausbildung zurückbekommt – liegt im Schnitt mit einem Fachhochschulabschluss aber nicht tiefer als mit einem Uniabschluss.» Die Ausbildungen gegeneinander auszuspielen sei also gar nicht notwendig.
Der Aufstieg dank Bildung ist gemäss Häner auch mit ein Grund, weshalb die Einkommensungleichheit zwar kurzfristig wegen des Heiratsverhaltens erhöht, langfristig aber nicht zementiert werde. «Über mehrere Generationen hinweg zeigt sich in den Steuerdaten, dass die Einkommensungleichheit stabil geblieben ist.» Das lasse sich auch in der interaktiven Datenbank Swiss Inequality Database (SID), die seit Kurzem öffentlich zugänglich ist, gut ablesen. Die Einkommensverteilung in der Schweiz entwickelt sich hierzulande anders als in den USA, wo sich die Schere seit den 80er-Jahren öffnet.
Der Job?
Ein wichtiger Faktor: Ein weiterer Grund für die hohe Mobilität und die geringe Ungleichheit bei den Einkommen vor Steuerabzug sei der gut funktionierende Arbeitsmarkt und die tiefe Arbeitslosenquote. «Wir haben auch gute Sozialwerke, die allfällige Krisen gut abfedern», so Häner.
Die Stabilität?
In Gefahr: Wie die Coronakrise, die hohe Inflation und der Krieg in der Ukraine sich auf die Einkommensungleichheit auswirken, zeigt sich in den Steuerdaten noch nicht, diese liegen erst bis 2018 vor. «Krisen auf dem Arbeitsmarkt, die hohe Arbeitslosenzahlen nach sich ziehen, bergen das grösste Potenzial, um die Ungleichheit zu erhöhen», so Häner. Aktienmarktkrisen, in denen Vermögende Verluste einfahren, wirken dagegen ausgleichend. «Die Kurzarbeitsentschädigungen und Überbrückungskredite waren sicher ein gutes Instrument.»
Eine offene Frage bleibt, wie sich die Ungleichheit in Bezug auf die Vermögen entwickelt. Gemäss neuesten Studien öffnete sich die Schere hier immer mehr. Die Vermögen der Wohlhabendsten weltweit wuchsen auch 2021 weiter. Sie konnten im vergangenen Jahr von gestiegenen Aktienkursen und der Konjunkturerholung nach der Coronakrise profitieren. Aktuelle Zinserhöhungen der Notenbanken im Kampf gegen die hohe Inflation belasten die Stimmung an den Aktienmärkten und drücken auf die Börsenkurse. Auch der Krieg in der Ukraine wird sich auswirken. Wie stark, muss sich zeigen.
Klar ist aber, dass das aktuelle Steuersystem in Bezug auf Vermögen und Einkommen in der Schweiz nicht in jedem Fall ausgleichend wirkt. Es besteht Potenzial für Verbesserungen.
Die Daten und Erhebenden
Um die Einkommensungleichheit über die letzten 100 Jahre zu messen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die kontrovers diskutiert werden. Wie der bekannte französische Ökonom Thomas Piketty verwendet auch das Team der Universität Luzern Steuerdaten zur Bestimmung der Einkommensungleichheit. Diese haben im Sinne einer Vollerhebung den Vorteil, dass sie – im Gegensatz beispielsweise zu Umfragedaten – auch Topeinkommen, die zur Messung der Einkommenskonzentration entscheidend sind, vollständig abbilden. Dazu kommt die langfristige Verfügbarkeit dieser Daten. Statistiken zum steuerbaren Einkommen reichen in der Schweiz bis ins Jahr 1917 zurück. Die Daten sind abrufbar auf: www.iwp.swiss
Illustrationen: Alice Kolb
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