Frau Rothen, nun steht auf dem Rathausplatz in Luzern wieder der Christkindli-Briefkasten. Kinder können dort seit 1984 Wunschzettel einwerfen. Haben sich die Wünsche mit den Jahren gewandelt?
Früher wünschten sich Kinder Malstifte und -büechli, heute sind es Fernseher und Handys. Sehr typisch ist aber immer noch das Büebli, das sich einen Spieltraktor wünscht. Es gibt auch Menschen, die Kleider brauchen, eine neue Matratze, Essen für sich oder Futter für den Hund.
Wie viele Briefe landen da ungefähr?
Einst war es jeweils eine Waschzaine voll, also rund 1000 Hundert Briefe und Karten – vorwiegend in der Adventszeit, aber auch ein Teil übers Jahr verteilt. Inzwischen sind es immer noch um die 500 bis 700. Also etwas weniger als früher, und das ist gut so. Denn es gibt inzwischen für viele Probleme Anlaufstellen. Da arbeiten Profis, die mit Armut und Nöten umzugehen wissen.
Überprüfen Sie, ob die Menschen, die an Sie gelangen, die Unterstützung auch nötig haben oder ob sie aus wohlhabenden Verhältnissen stammen?
Nein, nie! Das würde mir nicht in den Sinn kommen – selbst wenn ich deshalb vielleicht manchmal ausgenutzt werde. Ein Herzenswunsch ist ein Herzenswunsch, und wenn wir ihn erfüllen können, machen wir das.
Und das Handy?
(Lacht). Nein, wir schenken Kindern kein Handy. Ich schreib dann: «Du, das Christkind hat auch kein Handy, und auch keinen Computer.»
Ein Herzenswunsch ist ein Herzenswunsch, und wenn wir ihn erfüllen können, machen wir das.
Heidi Rothen, Initiantin des «Christkindli-Briefkasten» in Luzern.
Welcher Kinderwunsch hat sie am meisten berührt?
Vor etwa zehn Jahren schrieb eine Zweitklässlerin: «Mein Mami wird immer vom Papi geschlagen. Eigentlich darf ich das dem Christkind nicht schreiben, sonst schimpft das Mami. Aber ich tus jetzt trotzdem.»
Das ist herzzerreissend. Was haben Sie gemacht?
Ich rief die Mutter an, holte tief Luft und sagte: «Hier spricht das Christkindli. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.» Wir trafen uns dann in einem Café, wo sie zu weinen begann und sagte: «Es stimmt, dass mein Mann mich schlägt, aber unser Kind schlägt er noch viel mehr.»
Wie halten Sie solche Situationen aus?
Ich versuche zu helfen und das konnte ich bei dieser Frau auch. Es stellte sich heraus, dass der Familienvater Alkoholiker war, also bat ich das Blaue Kreuz um Hilfe. Das Ehepaar ist übrigens immer noch zusammen, es geht ihm gut. Das Mädchen geht inzwischen ans Gymi und schreibt mir immer noch hie und da.
Wie viel Zeit verbringen Sie damit, mit Menschen über ihre Sorgen zu sprechen?
Schwer zu sagen. Es kommt schon fast täglich vor. Viele suchen einfach ein offenes Ohr. Manchmal gebe ich Anlaufstellen für Menschen in Not an, das Frauenhaus etwa oder die «Dargebotene Hand.» Wenn Kinder in Gefahr sind, schalte ich sofort eine entsprechende Stelle ein und bleibe dran, bis Hilfe da ist. Kinder können sich ja nicht selber wehren.
Können Sie immer allen helfen und alle Wünsche erfüllen?
Nein, aber jede und jeder bekommt eine Antwort. Manchmal ists eine Karte mit ein paar Zeilen, dazu ein Buch. Einst schrieb mir ein Gefängnisinsasse, seine Mutter habe ihm immer zu Weihnachten einen Salami und Socken geschenkt. Sie sei aber nun gestorben. Also haben wir ihm das geschickt, jeden Advent, bis zu seinem Tod.
Wer schreibt all die Karten? Allein im Briefkasten landen ja im Advent Hunderte Wunschzettel.
Ich und viele ehrenamtliche Helfer und Helferinnen. Einige waren lange an meiner Seite und sind nun gestorben. Es kommen auch junge Leute nach, die mich unterstützen. Irgendwie findet sich immer jemand. Eine ganze Gruppe von Frauen strickt seit Jahren Pullis, Socken und Schals. Im Moment stehen bei mir zu Hause sechs Kisten Strickwaren und warten darauf, verschenkt zu werden.
Nicht nur im Christkindli-Briefkasten treffen Wünsche ein. Es kommen auch per Post Briefe «ans Christkindli». Oder Erwachsene melden sich per Telefon.
Ja, und zwar inzwischen das ganze Jahr. Bei den Erwachsenen haben die seelischen Nöte enorm zugenommen. Vor drei Wochen rief mich eine junge Frau an und sagte: «Ich weiss nicht, wie weiter, ich stürze mich bald in die Reuss.» Ich antwortete: «Das würde ich nicht tun, das ist doch viel zu kalt.» Wir trafen uns zu einem Kaffee und es stellte sich heraus: Ihr Mann war im Gefängnis, und nun haben die beiden Berge von Schulden.
Was machen Sie in so einem Fall?
Zuerst gingen wir zusammen in die Migros und kauften für 100 Franken Lebensmittel ein. Und ich bat sie darum, die Caritas einschalten zu dürfen. Sie war einverstanden und bekommt nun von dort Hilfe. Für die Caritas habe ich vor vielen Jahren Benefizkonzerte ins Leben gerufen, bei denen jährlich 60 000 bis 80 000 Franken zusammenkommen. Es ist ein Netzwerk, in dem man sich gegenseitig hilft.
Hat sich durch Corona etwas an den Wünschen geändert?
Sehr! Es werden wieder oft einfach Lebensmittel gewünscht. Auf der anderen Seite ist alles ein wenig komplizierter geworden. Stofftiere zum Beispiel kann ich nicht mehr einfach waschen und an Kinder verschenken, sie müssten jetzt desinfiziert werden. Das schaff ich aber nicht.
Viele suchen einfach ein offenes Ohr. und Junge hätten gern Geld, um Essen zu kaufen und die Eltern mal richtig gut zu bekochen. Das finde ich wunderschön.
Heidi Rothen
Was schenken Sie stattdessen?
Letzte Weihnachten habe ich angefangen, Gutscheine zu verschenken. Für 3000 Franken kaufte ich 50-Franken oder 100-Franken-Karten und verschickte diese. Dazu ein Brief mit ein paar Zeilen. Damit ist allen geholfen, auch denen, die zu Essen brauchen.
Sind die Wünsche zu Weihnachten anders als unter dem Jahr?
Sie sind jetzt etwas mitfühlender, etwas herzlicher, sensibler. Man wünscht dann eher etwas fürs Grosi, damits dem gut geht. Oder Junge hätten gern Geld, um Essen zu kaufen und die Eltern mal richtig gut zu bekochen. Das finde ich wunderschön. Einmal schrieb jemand wegen einer Frau, die wahnsinnig gern lese, aber leider immer weniger Sehkraft habe. Für sie fand ich eine Kantischülerin, die nun regelmässig hingeht und der älteren Dame vorliest.
Die materiellen Wünsche kosten Geld. Wie lösen Sie das?
Es findet sich immer jemand, der Geld spendet. Früher habe ich immer meinen 13. Monatslohn dafür aufgewendet, aber ich bin ja nun nicht mehr erwerbstätig. Der ehemalige Globus-Chef schenkte einst jedes Jahr tolle Säckli, mit Leckereien wie Teigwaren und Schoggi drin, und in guten Jahren mit einem Fläschli Sekt. Das war wunderbar. Busunternehmen spenden Reisen, Schifffahrtsgesellschaften Fahrten, und so weiter. Und manchmal muss ich einfach mein Netzwerk beanspruchen.
Was sollen Menschen tun, die helfen wollen?
Sie können mich anrufen. Bitte nicht das Kinderzimmer ausmisten und mir Spielsachen schicken. Wir sind keine Abfallentsorgung.
Was wünscht sich Heidi Rothen zu Weihnachten?
Dass die Menschen sich wieder mehr Zeit füreinander nehmen. Nachfragen, wies jemandem geht. Zuhören, aufeinander eingehen. Oft genügt das schon.
Heidi Rothen, 1939 in Mels SG geboren, arbeitete 33 Jahre lang im Luzerner Rathaus als Hausbeamtin, wo sie auch für das Wohlergehen von Gästen bei Staatsbesuchen sorgte. Ihr Einsatz für Bedürftige und Drogenabhängige brachte ihr die Übernamen «Stadtmutter» und «Drogenmutter» ein. Sie gehörte viele Jahre dem Bürgerrat der Stadt Luzern und dem Luzerner Kantonsrat an. 1984 rief sie den Christkindli-Briefkasten ins Leben. Seit 2004 ist Heidi Rothen offiziell im Ruhestand, kümmert sich aber immer noch persönlich um Menschen in Not. Und sie verbringt wieder mehr Zeit auf der Alp in Mels, wo sie aufgewachsen ist, und zwar «mit viel Liebe», wie sie sagt.
Foto/Bühne: © Herbert Zimmermann
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