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Macht uns die Smartwatch unsolidarisch?

Text

Nicola Brusa

Erschienen

31.01.2022

Illustration: Mann betrachtet eine übergrosse Smartwatch

Wie nutzen wir die wachsende Flut an Gesundheitsdaten? Jakub Samochowiec vom Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) hat vier Szenarien entwickelt und erklärt, welche Rolle Corona darin spielt.

Das Smartphone in der Hosentasche misst die tägliche Zahl Schritte, die Smartwatch am Handgelenk registriert Herzfrequenz, Blutdruck und Schlafrhythmus. Man erfasst selbst vielleicht den Menstruationszyklus, welche Medikamente man wann und in welcher Dosis zu sich nimmt, führt Buch über seine Essgewohnheiten.

Aus solchen Puzzleteilen ergibt sich ein grosses Bild, das Rückschlüsse auf Lebensstil und Verhalten zulässt und aus dem allfällige Gesundheitsrisiken herauszulesen sind. Ist das eine Verheissung der Digitalisierung oder doch eine Gefahr für die Gesellschaft? Mit dem Berg an digitalen Daten lässt sich vieles anstellen, je nachdem, wer auf ihn zugreifen kann. Diesen Fragen ist Sozialpsychologe Jakub Samochowiec vom Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) mit Experten nachgegangen. Um das Feld für die Diskussion abzustecken, haben die Autoren vier Szenarien (siehe Box) formuliert, «die so nie eintreten werden», so Samochowiec. Es seien bewusst Extremvari­anten gewählt worden, um den Raum möglichst weit zu öffnen.

Die vier Szenarien des GDI

  • Big Government
    Der Staat sammelt selbst Daten, um die Volksgesundheit zu optimieren. Das gesunde Verhalten wird belohnt und ungesundes bestraft. Wer sich nicht gesund verhält, wird quasi dazu gezwungen.
  • Big Business
    Die Gesundheitsversorgung findet im freien Markt statt. Je mehr man Daten teilt, die von guter Gesundheit zeugen, desto günstiger wird die Versicherungsprämie.
  • Big Self
    Daten werden nicht zentral gesammelt, sondern vom Individuum eingesetzt, um Feedback zum eigenen Verhalten zu erhalten und sich damit zu einem gesunden Verhalten zu befähigen.
  • Big Community
    Alle teilen freiwillig ihre Daten, als Dienst an der Gesellschaft. Dieses Modell diskriminiert nicht, weil es die Diversität, die ungesund lebende Menschen mit einschliesst, als eine Bereicherung des Datenpools sieht.

Jakub Samochowiec, wenn man die Skizze der vier Szenarien liest, hört man bereits die Aufschreie …
Weil sie als Extreme beschrieben werden. Und jedes Extrem hat in seiner Ausprägung etwas Totalitäres. Wir versuchen, die Extreme auszuloten, um den Raum für Diskussionen möglichst weit zu öffnen.

Dient es denn der Diskussion, wenn die Beispiele abschrecken? 
Das ist eine Frage, die wir uns ebenfalls gestellt haben. Es ist ein Risiko, das wir in Kauf nehmen. Denn die formulierten Extreme zeigen auch etwas anderes: Die technische Entwicklung stellt nicht einfach eine Alternativlosigkeit dar. Die Frage ist vielmehr, wie wir als Gesellschaft mit diesen Daten umgehen und sie nutzen.

Nehmen wir Big Government mit der Datenhoheit beim Staat. Ein Szenario, das sich sehr gut in der Aktualität verankern lässt …
… das aber seit jeher verhandelt wird. Ist ein schlanker oder ein starker Staat besser? Man pendelt da immer ein bisschen hin und her. Gerade jetzt in der Pandemie zeigt sich, dass ein starker Staat durchaus von Vorteil sein kann, wenn es darum geht, schnell zu reagieren.

Aber je länger die Pandemie dauert, desto mehr wird der starke Staat infrage gestellt.
Das ist eine sehr schweizerische Perspektive. Einige Länder mit weniger Todesfällen haben einen starken, kontrollierenden Staat. Ich glaube aber auch, dass Big Government schnell an Grenzen stösst. Der Staat kann unser Leben nicht bis ins letzte Detail steuern. Selbst wenn er wollte. Etwas kommt erschwerend hinzu: Ein Staat verspielt schnell Vertrauen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Zu Beginn der Pandemie wurde gesagt, Masken würden wenig bringen. Der Grund: Es gab schlicht zu wenige. Gilt später eine Maskenpflicht, ist klar, dass die Glaubwürdigkeit leidet.

In der Pandemie zeigt sich, dass ein starker Staat von Vorteil sein kann.

Jakub Samochowiec Trendforscher am GDI

Was hat uns die Pandemie betreffend Digitalisierung gelehrt?
Ich finde zum Beispiel die Sache mit dem Homeoffice spannend. Es hat sich gezeigt, dass weniger Kontrolle nötig ist, als viele Leute gedacht haben. Es funktioniert ganz gut, dass Leute zu Hause arbeiten, ohne dass zahlreiche technische Kontrolltools nötig sind. Die Pandemie hat vielleicht gewisse Annahmen über die Menschen infrage gestellt.

Das spricht dafür, dass Menschen für sich Verantwortung übernehmen und sich solidarisch verhalten. Aber stimmt das? Macht uns zum Beispiel die Smartwatch nicht unsolidarisch?
Ich gebe zu, die Pandemie scheint die Solidarität wiederum infrage zu stellen. Immerhin wurde ja die Forderung nach einer Impfpflicht laut. Informationskampagnen, die an die Selbstverantwortung appellieren, geraten irgendwann an ihre Grenzen. Nehmen wir das Rauchverbot: Die meisten Menschen sind froh, dass Rauchen im Restaurant schlicht verboten wurde und es nicht bei Appellen an die Eigenverantwortung blieb.

Big Self ist also auch nicht wirklich eine Option?
Im Notfall einer Pandemie ist es womöglich zu spät, an Eigenverantwortung zu appellieren, wenn diese nicht schon gegeben ist. Die Fähigkeit oder die Befähigung einer Ge­sellschaft geschieht nicht von heute auf morgen, das ist etwas Langfristiges.

Welche Hürden müssen dazu überwunden werden?
Wenn man sich mit einer Verdatung der Gesellschaft auseinandersetzt, kommen schnell Befürchtungen auf. Dass wir etwa unsere Autonomie verlieren oder die Kontrolle an Tech-Giganten (Big Business) oder den Staat (Big Government) abgeben. Dabei kann man Daten ohne Weiteres gewinnbringend nutzen, ohne die Kontrolle abzugeben.

Welches sind denn die Voraussetzungen, damit wir einen sinnvollen Umgang mit den Gesundheitsdaten finden?
Es braucht Wissen – über die Technologie genauso wie über die Möglichkeiten zum Umgang mit der Technologie. Nur so entsteht Vertrauen. Nicht in die Technologie, sondern ein Vertrauen in den Umgang mit unseren Gesundheitsdaten. Und dann braucht es Vertrauen in die anderen: Als Gesellschaft müssen wir ebenso darauf vertrauen können, dass sich die Menschen auch ohne Vorschriften (Big Government) oder öko­nomische Anreize (Big Business) vernünftig und solidarisch verhalten.

Illustration: Eine Gruppe trägt eine übergrosse Medikamenten-Kapsel

Und wie motiviert man eine Gesellschaft, Daten zu teilen?
Indem Mitglieder darin bestärkt werden, Daten freiwillig mit anderen zu teilen. Das Teilen kann als eine neue Form von Solidarität verstanden werden.

Was heisst das für jeden Einzelnen von uns?
Dass wir uns mit der Nutzung unserer Gesundheitsdaten auseinandersetzen. Und auch besser verstehen, mit wem wir was teilen, wenn wir unsere Joggingrunden auf der Smartwatch aufzeichnen. Dass wir uns aber auch als Teil eines Systems verstehen, um uns daran zu beteiligen und davon zu profitieren. Dafür braucht es das Verständnis, dass die Menge, die Vielfalt und die Qualität der Daten entscheidend sind für den Nutzen.

Birgt nicht gerade die Menge an Daten ein grosses Risiko?
Die Datenmasse ist eine grosse Chance, die geballte Macht ein grosses Risiko. Eine Kernaussage der Studie ist: Kontrolle und Diskriminierung von Menschen, basierend auf Daten, ist keine unvermeidbare Zukunft. In der Schweiz beispielsweise sind Krankenkassenprämien nicht vom Verhalten oder Gesundheitszustand des Einzelnen abhängig. Dieses Prinzip funktioniert auch trotz oder vielleicht sogar dank vorhandener Daten.

Verändern wir unser Verhalten nicht bereits deswegen, weil wir Daten erheben?
Das ist auf jeden Fall so. Und zwar zum Guten wie zum Schlechten. Zu viel Kontrolle etwa ist kontraproduktiv: Weil man nur noch Regeln befolgt, aber nicht mehr vernünftig handelt. Wir wissen, dass Entmündigung kostet: Geld und Vertrauen. Zudem besteht die Gefahr falscher Anreize.

An welche denken Sie?
Ich kann ein persönliches Beispiel nennen. Ich fahre mit dem Velo von Zürich nach Rüschlikon ans GDI. Dann begann ich, die Fahrt mit einer App zu erfassen. Ich brauchte immer etwas länger als eine halbe Stunde. Um die 30-Minuten-Grenze zu knacken, um einen Wert zu optimieren, bin ich zunehmend waghalsig gefahren. Als ich dies erkannte, schaltete ich die App und damit diesen falschen Anreiz wieder aus.

Portrait Jakub Samochowiec

Jakub Samochowiec

Der Forscher

Der Sozialpsychologe Jakub Samochowiec arbeitet als Senior Researcher am Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) und befasst sich mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen. Er ist Co-Autor der Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch? Szenarien für ein datafiziertes Gesundheitswesen», die das GDI im Auftrag der Stiftung Sanitas Krankenversicherung verfasst hat.

llustrationen: Nils Kasiske

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