Von lesbischen Vampiren und schwulen Superhelden
Queere Figuren gab es im Film lange gar nicht oder nur negativ dargestellt. Doch in den letzten Jahren hat sich einiges getan. Dies illustriert auch die Retrospektive «Scream Queer» am Neuchâtel International Fantastic Film Festival.
TV-Serien ohne LGBTQ-Figuren und -Handlungsstränge sind selten geworden. Sie spielen längst nicht mehr nur Nebenrollen, sondern sind entscheidend für die Story, wecken Sympathie und Verständnis. Immer häufiger geht es gar direkt um sie, etwa bei der Netflix-Serie «Young Royals» (seit 2021), in der sich der schwedische Kronprinz im Internat in einen Mitschüler verliebt. Oder in der Disney+-Serie «Love, Victor» (seit 2020), in der ein junger Latino mit seinen gleichgeschlechtlichen Gefühlen klarzukommen lernt. Oder in «Orange is the new Black» (2013-2019), in der das Leben und die Beziehungen in einem US-Frauengefängnis erzählt werden.
Filme sind da noch immer deutlich zurückhaltender, insbesondere die grossen Blockbuster, die darauf angewiesen sind, dass die Kinokassen weltweit klingeln, um die teuren Produktionskosten einzuspielen. Doch selbst hier bewegt sich was. Im aktuellen «Fantastic Beasts: The Secrets of Dumbledore» (2022), der die Vorgeschichte von «Harry Potter» erzählt, treibt die frühere Liebesbeziehung der beiden Zauberer Albus Dumbledore und Gellert Grindelwald die Handlung voran. Und im Marvel-Superhelden-Spektakel «Eternals» (2021) hat eine der männlichen Hauptfiguren einen Ehemann samt gemeinsamem Sohn.
Ausflüge in fremde Welten
Der fantastische Film spielt auch sonst eine gewisse Vorreiterrolle. In den letzten Jahren gab es gleich mehrere Gruselstreifen, in denen queere Elemente eine wichtige Rolle spielen. Eine der originellsten Ansätze findet sich in «Freaky» (2020), in der ein Serienkiller und ein Highschool-Girl durch einen kosmischen Unfall die Körper tauschen, was zu wilden Wirren führt. Und zu einer Szene, in welcher der attraktive potenzielle Boyfriend des Mädchens erklärt, er würde sie jetzt sehr gerne küssen – was dann prompt geschieht, obwohl sie immer noch im bulligen Körper des Serienkillers steckt.
«Fantastische Filme ermöglichen Ausflüge in andere, fremde Welten. Und queer bedeutet im Wortsinn ‘seltsam’, es repräsentiert ‘das Andere’ – eine andere Art zu leben, eine andere Identität. So gesehen passt das recht gut zusammen», erklärt Pierre-Yves Walder (46), Direktor des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF), das am 1. Juli startet. Er zeigt dieses Jahr auch rund 25 queere Spiel- und Kurzfilme, der älteste von 1922. Die Reihe unter dem Titel «Scream Queer» wird vom Migros-Kulturprozent unterstützt.
«Schon als ich mich für die Stelle als Festivalleiter beworben habe, schwebte mir vor, eine solche Retrospektive zu organisieren», sagt Walder. Queere Elemente habe es im fantastischen Film nämlich schon immer gegeben, aber jahrzehntelang entweder nur unterschwellig oder verunglimpfend. «Das jedoch hat sich zu ändern begonnen, und diese Evolution möchten wir zeigen.» Gerne hätte er dabei auch einen Schweizer Film integriert. «Aber wir haben nichts Passendes gefunden. Nur schon fantastische Filme sind hierzulande leider rar.»
Der Wandel im Umgang mit queeren Themen und Charakteren habe vor 20 bis 30 Jahren begonnen, graduell und langsam, parallel mit der wachsenden Akzeptanz in der Gesellschaft. «Es begann in Underground-Filmen, ging weiter im Arthouse-Bereich und erreicht nun auch den Mainstream.» Die 1980er-Jahre sieht er als Übergangszeit. «Da gab es bereits queere Figuren, aber sie waren meist die bösen, derangierten Killer.»
Hitchcocks problematisches Meisterwerk
Als frühes Beispiel dafür, das am Festival auch gezeigt wird, nennt er Alfred Hitchcocks Meisterwerk «Psycho» (1960). «Norman Bates ist ein psychotischer Charakter und möglicherweise sogar schwul», sagt Walder. «Auf jeden Fall unterdrückt er seine sexuellen Bedürfnisse, und wenn sie sich dann doch mal bemerkbar machen, löst er das, indem er tötet – in den Kleidern seiner verstorbenen Mutter.» So brillant und effektiv der Film sei, so problematisch sei die queere Perspektive. «Ich glaube allerdings nicht, dass dieser Aspekt Hitchcock gross beschäftigt hat, er nutzte das primär, um zu schockieren, was ihm auch sehr effektiv gelang.»
Interessant findet Walder zudem, dass Hauptdarsteller Anthony Perkins selbst schwul oder zumindest bisexuell war, auch wenn er nie ein offizielles Coming-out hatte. «Aber Perkins hat die Geschichte später fortgesetzt, als Schauspieler und sogar als Regisseur.» Zudem gibt es ein Remake des Originals vom schwulen Regisseur Gus van Sant, das am Festival ebenfalls zu sehen sein wird.
Ansonsten war Walder wichtig, eine möglichst diverse Auswahl zu zeigen, aus unterschiedlichen Epochen und Ländern, Bekanntes und Seltenes. «Auch sollten möglichst viele sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten repräsentiert sein.» Besonders Wert legte er darauf, Filme von Regisseurinnen aufzunehmen, darunter etwa «Orlando» (1992) von Sally Potter oder «Bound» (1996) von Lily und Lana Wachowski, beide trans.
Viele queere Vampire
Auch der lesbische Vampirfilmklassiker «Les Lèvres rouges»/«Daughters of Darkness» (1971) ist vertreten, in dem ein weiblicher Vampir es auf junge Frauen abgesehen hat. Queerness ist im Vampirgenre ein schon lange gepflegtes Motiv. Von den Romanen der US-Schauerautorin Anne Rice («Interview with the Vampire», 1976) über die TV-Serie «True Blood» (2008-2014) bis hin zu einer BBC-Neuverfilmung der Dracula-Geschichte von 2020, bei welcher der Graf auf der Schiffsüberfahrt nach London einen jungen schwulen Adeligen dazu verführt, ihm zu Diensten zu sein.
Dass TV-Serien heute gegenüber LGBTQ viel offener sind als Filme, habe mit dem oft jüngeren Publikum zu tun, sagt Walder. «Für sie ist diese Präsenz selbstverständlich, manche erwarten solche Diversität geradezu.» Hinzu kämen ein paar erfolgreiche schwule TV-Produzenten in den USA wie Ryan Murphy oder Greg Berlanti, welche diese Geschichten gezielt förderten. «Ausserdem haben Serien mehr Zeit, Raum und somit auch mehr Freiheiten, Figuren und Handlungen differenziert zu entwickeln.»
Langsamer, aber stetiger Fortschritt
Ähnliches gilt für Comic-Superhelden. In den letzten Jahren tauchten mehr und mehr queere Heldinnen und Helden auf. Hinzu kamen ein paar prominente Coming-outs lang etablierter Figuren, darunter Iceman von den «X-Men», Supermans Sohn Jonathan Kent und Batmans Sidekick Robin. Früher oder später wird sich dies wohl auch auf die Verfilmungen auswirken. «Und es passt ja auch sehr gut», sagt Walder. «Superhelden haben meist zwei Identitäten – etwa Bruce Wayne bei Tag, Batman bei Nacht.» Diese Identitäts-Fluidität passe bestens zu queeren Figuren. «Ist man lesbisch, schwul, bi oder trans muss man sich auch früher oder später seinem Umfeld offenbaren.»
Der Fortschritt in der Filmwelt passiere langsam, aber stetig, sagt Walder. Und natürlich bestehe immer auch das Risiko für Rückschritte. «Aber derzeit geht es voran. Und ich hoffe, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch das Mainstreamkino dort ankommt, wo die Serien jetzt schon sind.»
Foto/Bühne: Dyke Hard, © Nicklas Dennermalm
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