Gleichberechtigung: Zukunftsmacherinnen von heute
Es war ein langer und zäher Kampf bis Schweizer Frauen 1971 endlich das Stimm- und Wahlrecht erhielten. 50 Jahre später haben wir Pionierinnen aus unserem Netzwerk gefragt, wo die Gleichberechtigung heute steht, wofür weiter gekämpft werden muss und wie frau zur Pionierin wird. Dabei wird klar: Die Zukunft gehört weder den Frauen noch den Männern. Sie gehört Menschen mit Visionen, die Ideen auch Taten folgen lassen.
Die Pionierinnen des Frauenstimmrechts haben viel erreicht, doch für die Gleichberechtigung der Frauen gibt es noch viel zu tun – darüber sind sich die befragten Pionierinnen aus dem Partner*innen-Netzwerk des Migros-Pionierfonds einig. Eine von ihnen ist Ondine Riesen vom Pionierprojekt Ting, das mit einem gemeinschaftlich getragenen Solidaritätsfonds einen neuen Ansatz für die Zukunft unserer Sozialsysteme testet. Riesen ist Kommunikationsverantwortliche der Ting Community und des «Vereins Grundeinkommen». Die 40-Jährige sagt: «Ich bin dankbar für die harte Arbeit der Frauen, die für das Frauenstimmrecht gekämpft haben.» Gleichzeitig könne sie kaum glauben, wie langsam so ein gesellschaftlicher Wandel voranschreite. «Es ist kaum auszuhalten. Erst wenn jedes Wort einer Frau gleich viel wiegt wie das eines Mannes, können wir anfangen, die Gesellschaft nach unseren wahren Bedürfnissen zu formen.»
Es ist wichtig, dass junge Frauen ihre eigenen Gedanken mitteilen. Denn die Chance besteht, dass sie neu sind.
Ondine Riesen Kommunikationsverantwortliche der Ting-Community
Positiv an der heutigen Situation ist für Ondine, dass mittlerweile allgemein bekannt sei, dass Frauen «Menschen mit Wünschen, Träumen, Intellekt, Humor, Ethos, Würde und Ambitionen» sind. «Das klingt jetzt vielleicht etwas komisch, ich weiss. Aber das sind echte Errungenschaften!» Weniger gut sehe es bei der Kinderbetreuung, bei sexualisierter Gewalt, Wissen, Einfluss, Lobby, Medizin und beim Geld aus. Vor allem bei der Entkopplung von Sozialleistungen an Lohnarbeit müsse vorwärts gemacht werden, betont Ondine. «Das ganze System baut auf der Idee auf, dass der Mann arbeitet und die angeheiratete Frau zu Hause die Kinder betreut und von seinen Leistungen mitprofitiert. Aber das ist längst passé. Ich verstehe nicht, wie sehr man sich an diese Idee klammert. Wir tun so, als wären weder Menschen noch Gesellschaften noch Systeme fähig, sich den Gegebenheiten anzupassen.»
Die Schweiz hat Aufholbedarf
Karen Rauschenbach kam vor vier Jahren mit ihrem Mann und den beiden Kindern in die Schweiz. Zuvor hatte die gebürtige Deutsche in verschiedenen Ländern gelebt, zuletzt in Frankreich. Sie ist Gründerin des nachhaltigen Modelabels «The Blue Suit» und Initiatorin eines neuen Pionierprojekts, das andere Labels auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft begleiten will. Karen war «ziemlich überrascht», als sie hörte, dass die Schweizer Frauen erst seit 50 Jahren wählen und abstimmen dürfen. «Es passte ganz und gar nicht in das Bild, das ich von der Schweiz als innovatives Land hatte.» Sie habe dann aber schnell feststellen müssen, dass die Schweiz auch in anderen Bereichen Aufholbedarf habe, etwa bei der Kinderbetreuung. «Ich hatte die Erwartung, dass diese genauso unkompliziert funktioniert und erschwinglich ist wie in Frankreich oder Deutschland», sagt die 45-Jährige. Doch dem war nicht so. «Ich fragte mich, wie die Wirtschaft hier überhaupt funktionieren kann.»
Es gibt immer mehr junge, engagierte und mutige Unternehmerinnen. Diese Dynamik ist spürbar.
Karen Rauschenbach Gründerin von The Blue Suit
Fortschritt bezüglich Gleichstellung heisst für Karen unter anderem: Jede Familie kann selbst wählen, ob Mutter und Vater arbeiten und ob die Kinder auswärts betreut werden, nicht das System entscheidet dies für die Familie. Wenn nicht auf gleicher Ebene diskutiert werde, sei es schliesslich meist die Frau, die zu Hause die Arbeit mache und keine Zeit für anderes habe. «Solange man zu Hause nicht gleichberechtigt ist, ist es auch schwierig, im Job gleichberechtigt zu sein», ist Karen überzeugt. Was sie aber freut: Frauen werden in der Politik immer sichtbarer und es gibt inzwischen auch mehr junge, engagierte und mutige Unternehmerinnen. «Diese Dynamik ist spürbar.»
Noch viel Aufklärung nötig
Und solche Dynamik sei bitter nötig, betont Nora Wilhelm, Aktivistin und Mitbegründerin der Initiative collaboratio helvetica: «Vielen in der Schweiz ist nicht bewusst, wie rückständig wir im Vergleich zu anderen Ländern sind.» In einer Unicef-Studie beispielsweise belege die Schweiz bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf den letzten Platz der europäischen Länder. «Das ist schockierend und zeigt, wie viel Aufklärung noch nötig ist.» Gerade junge Frauen würden oft belächelt und müssten mehr leisten, um ernst genommen zu werden, sagt Nora. Doch davon lässt sich die 27-Jährige nicht einschüchtern. Mit ihrem Team von collaboratio helvetica geht sie hartnäckig der Frage nach, welchen Beitrag die Schweizer Bevölkerung zur Erreichung der Sustainable Development Goals leisten kann. Nora ist eine typische Vertreterin der Social Entrepreneurs (siehe Infobox) und wurde im vergangenen Jahr von Forbes auf die Liste der «30 Schweizer Persönlichkeiten unter 30» gesetzt.
Es gibt mehr als ‹Frau› und ‹Mann›. Wir müssen von diesem 50:50-Denken wegkommen und Pluralität anerkennen.
Nora Wilhelm Mitbegründerin der Initiative collaboratio helvetica
Das grösste Problem in Bezug auf die Gleichberechtigung ist Noras Meinung nach ein «Konglomerat von Faktoren», das ein systematisches Problem kennzeichnet, jedoch alle Menschen betrifft. «Wir haben Ideen von Geschlechtern, Strukturen, Hierarchien und Stereotypen internalisiert, und um diese zu ändern, braucht es einen riesigen Effort jedes einzelnen Individuums.» Dass in den letzten Jahrhunderten spezifisch für Frauen gekämpft wurde, sei richtig und wichtig gewesen. Nun aber gelte es den Blick zu öffnen, denn es gebe noch mehr Themen, die mit ungleicher Behandlung zu tun hätten. Als Beispiele nennt Nora Rassismus, sexuelle Orientierung und Einkommensungleichheit. Gleichzeitig plädiert sie dafür, vom Schwarz-Weiss-Denken wegzukommen und zum Beispiel auch darüber nachzudenken, dass es nicht einfach nur Frau und Mann als zwei stereotypisierte Geschlechter gibt. «Wir müssen wegkommen von diesem 50:50-Denken», sagt die Aktivistin. «Es gibt komplexere Lebensentwürfe. Wir müssen diese Pluralität und Vielfalt anerkennen und uns für diese einsetzen, damit alle Menschen so leben können, wie sie es möchten.»
Visionen, Mut und ein dickes Fell
Alle drei Frauen wollen mit ihrem Pionierprojekt die Welt ein Stück besser machen – ein grosses Ziel. Doch grosse Visionen und kühne Ideen sind es, was Pionierinnen brauchen. Britta Friedrich ist stellvertretende Leiterin des Migros-Pionierfonds und hat schon zahlreiche Pionierprojekte begleitet. Sie weiss, was es dazu auch noch braucht: «Voranzugehen und Neues zu wagen erfordert Mut und zuweilen ein dickes Fell. Denn für seine Ideen einzustehen bedeutet auch, Widerstände und Kritik aushalten zu können und Rückschläge als Chancen zu begreifen.» Britta hat vor ihrer Zeit beim Migros-Pionierfonds eine Innovationsabteilung bei der Frankfurter Buchmesse aufgebaut. Für die 42-Jährige bedeutet Pioniergeist, nicht nur visionär zu denken, sondern der Idee Taten folgen zu lassen.«Wirkung erreicht man nur mit einem starken Willen zur Gestaltung. Man muss bereit sein, anzupacken und den Weg freizumachen für seine Vision.»
Im Bereich der gesellschaftlichen Innovation ist es zwingend notwendig, möglichst viele und repräsentative Perspektiven einzubinden.
Britta Friedrich stv. Leiterin des Migros-Pionierfonds
Marie Curie, Annemarie Schwarzenbach und nicht zuletzt auch die Vorreiterinnen des Frauenstimmrechts zeigen: Es gab auch früher Pionierinnen. Allerdings waren sie in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent, weshalb Pioniergeist vornehmlich Männern zugeschrieben wurde. Heute ist das anders. «Pioniergeist ist eine Haltung. Und diese ist nicht vom Geschlecht abhängig», betont Britta. Hinter den vom Migros-Pionierfonds geförderten Projekten stünden etwa gleich viele Frauen wie Männer, obwohl nicht bewusst geschlechterspezifisch ausgewählt werde. «Diversität gilt mittlerweile als ein Wettbewerbs- und Innovationsfaktor», sagt Britta und setzt nach: «Im Bereich der gesellschaftlichen Innovation würde ich sogar noch weiter gehen: Da ist es zwingend notwendig, möglichst viele und repräsentative Perspektiven einzubinden. Das gilt für das Geschlecht, aber natürlich auch darüber hinaus.»
Ein Schubs entgegen dem Understatement
Die Unterschiede zwischen den Pionierinnen und Pionieren seien im Übrigen gar nicht so gross, sagt Britta. Ganz frei von Klischees ist aber auch die Welt des Migros-Pionierfonds nicht: «Wir begegnen in unserer Arbeit ab und zu einer ‹typisch› weiblichen Zurückhaltung von Pionierinnen, die mit ihrer Art und ihren Ideen zuweilen weniger draufgängerisch sind als ihre Kollegen.» Das müsse allerdings nicht unbedingt ein Nachteil sein. «Und wenn wir bei einer Idee noch mehr Potenzial sehen, dann geben wir einfach den nötigen Schubs, sie etwas grösser zu denken.»
Einen Schubs im Sinne von Ratschlägen gibt es auch von den drei Pionierinnen. «Man muss bereit sein, ein Risiko einzugehen und auch etwas zu machen, das einem Angst einjagt», sagt Nora Wilhelm. Karen Rauschenbach rät, sich ein gutes Netzwerk aufzubauen, und für Ondine Riesen ist es wichtig, dass junge Frauen ihre eigenen Gedanken mitteilen. «Denn die Chance besteht, dass sie neu sind.»
Soziales Unternehmertum mit überdurchschnittlich vielen Frauen in Führungspositionen
Im Sozialen Unternehmertum ist die Gleichstellung von Mann und Frau in Führungspositionen bereits gut umgesetzt. Zu diesem Schluss kommt der erste Schweizer Monitor zum Sozialen Unternehmertum, den die Organisation SENS mit Förderung des Migros-Pionierfonds (über das Projekt SCHUB) im Herbst 2020 veröffentlicht hat. Befragt wurden rund 300 Schweizer Unternehmen, deren Zweck in der positiven sozialen, ökologischen und kulturellen Wirkung liegt. Im Durchschnitt haben diese Unternehmen mit einer gesellschaftlichen Mission 46 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt – das sind neun Prozentpunkte mehr als im schweizerischen Durchschnitt. SENS führt dies darauf zurück, dass im Sozialen Unternehmertum viele Angestellte Teilzeit arbeiten können, wodurch wiederum die partnerschaftliche Aufteilung der Arbeiten in Familie und Beruf vereinfacht werde.
Deine Meinung
Gefällt dir dieser Beitrag?