Das Chaos und die Gewalt in Kabul kennen wir nur von Fernsehbildern. Taiba Rahim (52) hingegen ist dort erst vor wenigen Tagen abgereist. Im fensterlosen Rumpf einer deutschen Armee-Cargomaschine gelangte sie zuerst nach Taschkent in Usbekistan. Danach reiste sie mit einem Charterflugzeug nach Hannover (D) und dort mit einem Linienflug nach Zürich. Jetzt ist die Afghanin wieder wohlbehalten zuhause im Waadtland, wo sie seit 21 Jahren lebt.
Man sollte annehmen, dass ihr die Strapazen der langen Reise noch anzumerken sind. Stattdessen erzählt die Präsidentin des Schweizer Hilfswerks «Association Nai Qala» voller Begeisterung vom Entwicklungsprojekt: In einem steinigen, baumlosen Gebirgstal in der zentralafghanischen Provinz Bamiyan ist auf rund 3000 Metern über Meer eine dringend benötigte Mädchenschule entstanden. Im vergangenen Jahr wurde das Gebäude aus Backsteinen und groben Steinquadern errichtet. Es bekam ein Dach aus dickem Stahlblech – stark genug, um die Last des Schnees auszuhalten, der dort im Winter in rauen Mengen vom Himmel fällt.
Mädchen sollen Würde behalten
650 Mädchen im Alter von acht bis 20 Jahren können dort nun unterrichtet werden. «Sie erhalten Schulungen, die auf konkrete Berufe hinführen», sagt Rahim. «Sie werden zum Beispiel zu Schneiderinnen, medizinischen Fachkräften oder Lehrerinnen ausgebildet. So eröffnen sich ihnen Perspektiven in ihrer Heimatregion. Sie müssen ihr Glück nicht in grossen Städten suchen, wo sie oft jede Arbeit annehmen müssen, und dabei ihre Würde verlieren.»
Ermöglicht wurde das Projekt durch eine grosse Zuwendung des Migros-Unterstützungsfonds. Rahim hat den Bau der Schule mit ihrem Hilfswerk vorangetrieben. Sie war oft vor Ort, führte Verhandlungen und leistete Überzeugungsarbeit. Dabei kam ihr zugute, dass sie ebenfalls in der Provinz Bamiyan aufgewachsen ist und wie viele Menschen dort zur schiitischen Minderheit der Hazara gehört.
Die energische, tatkräftige Frau traf sich immer wieder mit den Ältesten und den Dorfräten der sieben Gemeinden im Hochtal. Manchmal sprach sie zu einer 60-köpfigen Männerversammlung. Das Projekt war ehrgeizig: Es galt zunächst, eine befestigte Strasse zu bauen, damit Baumaschinen aus der Stadt anrücken konnten. «Entscheidend war, dass sich viele der Männer eine Schule für ihre Töchter dringend wünschten», sagt Rahim. «Sie waren unglücklich darüber, dass ihre Mädchen bis anhin keinen regulären Unterricht bekommen hatten.»
Denn bis vor dem Bau der Schule wurden die Mädchen unter freiem Himmel unterrichtet. Sie sassen auf Decken am Boden, während die Lehrer den Schulstoff zu vermitteln versuchten. Die winterlichen Schneemassen und der starke Wind im Hochtal machten den Unterricht aber oft unmöglich. Es gab nur wenige Bücher und erst recht keine Computer. Manche Lehrer zeichneten stattdessen eine Tastatur auf Papier, damit sich die Schülerinnen einen Rechner wenigstens vorstellen konnten. Nun gibt es im massiv gebauten Schulhaus mit den grün getünchten Wänden eine gut bestückte Bibliothek und auch einen Computerraum mit zehn Geräten.
Viele der Männer wünschten sich dringend eine Schule für ihre Töchter, das war entscheidend.
Taiba Rahim, Präsidentin des Hilfswerks Association Nai Qala
Taliban bleiben dem Tal fern
Als Rahim kürzlich zur feierlichen Einweihung der Schule vor Ort war, überschlugen sich gleichzeitig die Ereignisse in Afghanistan: Nach dem Abzug der Amerikaner brach der Widerstand der nationalen Armee zusammen, die Taliban rückten unaufhaltsam vor. «Doch in das Hochtal drangen bisher keine Talibankämpfer vor», sagt die Leiterin des Hilfswerks. «Im Moment ist es für sie wichtiger, in den Städten Präsenz zu markieren. Das hat viel mehr Symbolkraft.»
Und trotzdem: Werden die Taliban nicht einfach später einmarschieren, die Schule in Besitz nehmen und für ihre Zwecke missbrauchen? Schliesslich haben sie bereits 2001 in dieser Region gewütet und die berühmten Buddha-Statuen gesprengt. «Ich bin trotzdem zuversichtlich», sagt Rahim mit ruhiger Stimme. «Nach der Einweihung haben wir die Schule in die Obhut der Dorfältesten übergeben. Es ist nun ihr Projekt, sie sind stolz darauf, und sie werden es nicht so leicht hergeben. Die Leute in dieser Bergregion erinnern mich stark an die Schweizerinnen und Schweizer: Ihr Auftreten ist zurückhaltend und bescheiden, doch sie haben einen enorm starken Willen und können auch regelrecht stur sein.»
Foto/Bühne: Nai Qala
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