«Viele sehen mich, aber sie schauen vorbei»
Erschienen
28.04.2022
Lenthe Basant sorgt dafür, dass Sehbehinderte die Apps und Websites der Migros nutzen können. Er ist selbst blind und wünscht sich, von seinen Mitmenschen mehr wahrgenommen zu werden.
Nur, husch, die Packung Milch holen, die beim letzten Einkauf vergessen ging. Einen Zahnpastafleck vom Hemd wischen. Mit dem Tram zur Arbeit fahren. Alles ganz selbstverständliche Tätigkeiten? Nicht für Lenthe Basant. «Wenn man sehbehindert ist, muss man sein ganzes Leben organisieren», sagt der 55-Jährige. Es bleibt wenig Platz für Spontaneität, «weil ich für fast alles Unterstützung brauche.» Alles muss geplant sein, «sonst passiert es einfach nicht», resümiert Basant und zieht dabei die Augenbrauen hoch. «Auch das musste ich lernen», meint er und zeigt auf sein Gesicht.
Sehende Menschen kommunizieren zu einem grossen Teil nonverbal. Sie gestikulieren mit den Händen, blicken sich an, schütteln den Kopf. «Ich kann das auch, weil ich es geübt habe – trotzdem verpasse ich diesen Teil der Kommunikation und merke es eben zum Beispiel nicht, wenn jemand in einer Sitzung auf meinen Zahnpastafleck starrt», erklärt Basant. Er muss sich seinen Mitmenschen über Worte mitteilen. «Dadurch kann mich sehr gut und sehr genau ausdrücken. Wege kann ich bis ins Detail beschreiben. Nur fragt mich leider nie jemand danach!»
Als Customer Experience Specialist beim Migros-Genossenschafts-Bund stellt er immerhin sicher, dass Menschen online die richtige Abzweigung finden. «Ich bin dafür verantwortlich, dass die Websites und Apps der Migros auch für Sehbehinderte zugänglich sind.» Wichtigstes Werkzeug hierfür ist der sogenannte Screenreader, eine Software, die vorliest, was auf einem Handy- oder Laptopbildschirm sichtbar ist. «Ist etwas unklar, kann ich es auch auf meiner Blindenschrifttastatur nachlesen.» Dabei stösst Basant immer wieder auf Fehler und Stolpersteine, die er dann mit dem Entwicklerteam bespricht. «Unser Ziel ist, dass ich das Angebot genauso nutzen kann, wie es Sehende auch tun.» Weshalb das so wichtig ist? «Weil es mir Unabhängigkeit gibt», so Basant.
Ich würde mich freuen, wenn Menschen auf mich zukommen würden, ohne dass ich sie darum bitten muss.
Lenthe Basant
Ärztliche Hilfe kam zu spät
Seit seiner Kindheit ist Basant auf die Unterstützung anderer angewiesen. Als er fünf Jahre alt ist, verliert er aufgrund einer angeborenen Krankheit allmählich sein Augenlicht. «Ich bin in Suriname aufgewachsen, und wir lebten damals mitten im Amazonasgebiet.» Er erinnert sich an Kopfweh und schmerzende Augen. Als endlich ärztliche Hilfe ankommt, ist es bereits zu spät: Lenthe ist fast vollständig erblindet. Damit er besser versorgt ist, schicken ihn seine Eltern in eine Schule für Sehbehinderte in die Niederlande. «Ich habe früh gelernt, andere Menschen um Hilfe zu bitten und mich nicht dafür zu schämen.»
So kann er auch seinem liebsten Hobby nachgehen, dem Laufen: «Es hält mich nicht nur fit, sondern gibt mir auch ein Gefühl von Freiheit», erzählt Basant. Seit sechs Jahren trifft er sich einmal pro Woche mit der Migros-Kollegin Gisela Meier zum Joggen. «Das Vertrauen zu ihr war von Anfang an da. Sie passt wirklich gut auf, und ich kann mich auf ihre Anweisungen verlassen.» Als Blindenguide muss Meier jeden Randstein im Blick haben, Hindernisse antizipieren und ihre Kommandos klar formulieren. Über ein Band in ihren Händen sind die beiden verbunden. «Manchmal laufe ich aber auch ganz frei, dann konzentriere ich mich nur auf das Geräusch unter Giselas Füssen und kann in meinem ganz eigenen Takt laufen», erklärt Basant. «Das ist einfach wunderschön!»
Solche Momente würde er sich viel häufiger wünschen: «Ich würde mich freuen, wenn Menschen auf mich zukommen würden, ohne dass ich sie darum bitten muss.» Zum Beispiel, wenn er an der Haltestelle steht und nicht weiss, welches Tram gerade einfährt. Oder er im Kühlregal zwischen all den identischen Verpackungen die Biomilch sucht. Jedes Hilfsangebot sei für ihn auch eine Möglichkeit zur Interaktion. «Manchmal fühle ich mich, als wäre ich in einer anderen Welt. Viele sehen mich zwar, aber sie schauen an mir vorbei. Doch auch ich möchte wahrgenommen werden.»
Fotos: Gian Marco Castelberg
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