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«Disziplin hat eine beruhigende Wirkung»

Text

Pierre Wuthrich

Erschienen

19.11.2024

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Marina Viotti ist nicht nur Opernsängerin, sie kann auch Heavy Metal. Überhaupt sprengt sie gern Barrieren. Was wir von ihr abschauen können.

Die Mezzosopranistin Marina Viotti taucht dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet. Im Sommer etwa sorgte sie mit der Metal-Band Gojira anlässlich der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris für Aufsehen. Im Herbst gewährte die Waadtländerin einen Einblick in ihr Innenleben. Auf dem Album «Melankhôlia» beschreibt sie mit Musik zwischen Rock und Barock ihren Kampf gegen den Krebs. Neben ihren Auftritten in den Opernhäusern von Paris, Zürich und Barcelona wird Marina Viotti künftig als Mentorin für das Migros-Kulturprozent tätig sein und junge Talente dazu ermutigen, ebenfalls mit Konventionen – sprich Genregrenzen – zu brechen. 

Sich selbst bleiben

«Man braucht Mut, um seine Komfortzone zu verlassen. Es ist nie einfach, aber man bereut es nicht, weil es sehr bereichernd ist. Das erlebe ich oft bei meinen Crossover-Projekten, bei denen ich verschiedene Musikgenres mische. Schon während meines Studiums begann ich damit, bei meinen Darbietungen beispielsweise Jazz und Oper miteinander zu verbinden, auch wenn meine Lehrer damit teilweise nicht einverstanden waren. Aber da ich hart arbeite und mich selbst bleibe, funktioniert es. Ausserdem finde ich es beruhigend, mehrere Eisen im Feuer zu haben. Dadurch kann ich ruhiger singen, denn ich weiss, dass ich einen Plan B, C und D habe, wenn es mit der Oper eines Tages nicht mehr läuft.»

Nur konstruktive Kritik annehmen

«Vorsprechen können brutal sein. Ich musste mir schon anhören, dass ich zu alt sei oder zu gefühllos … Ich habe beschlossen, das alles an mir abprallen zu lassen und einfach nur konstruktive Kritik anzunehmen, um an ihr zu wachsen. Ich sage mir immer, dass mich das Leben schon führen wird. Das ist übrigens auch so. Selbst bei Konzerten in kleinen Sälen kann man Begegnun-gen haben, die neue Türen öffnen. Daher ist es für mich wichtig, immer in Bewegung zu bleiben.»

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Es reicht nicht mehr aus, gut zu singen, man muss auch eine Persönlichkeit entwickeln können.

Marina Viotti (38) studierte Querflöte in Lausanne und machte ihren Master in Literatur und Philosophie in Marseille (F). Nebenbei trat sie als Sängerin in einer Heavy-Metal-Band auf. Mit 25 Jahren begann sie ein Gesangsstudium in Wien, Lausanne und Barcelona. Viotti wurde 2023 in Paris zur Opernsängerin des Jahres gekürt.

Diszipliniert leben

«Wenn man Karriere in der Oper macht, muss man einen gesunden Lebensstil pflegen. Ausgehen mit Freunden liegt oft nicht drin, vor allem, wenn ich am nächsten Tag singe. Dafür muss ich streng mit mir sein, aber das stört mich nicht. Disziplin hat eine beruhigende Wirkung. Ich habe jeden Morgen das gleiche Ritual: Ich treibe Sport, egal, wo auf der Welt ich mich befinde. Diese beständige Routine ist ein Ankerpunkt in meinem Nomadenleben.»

Erfreuliches visualisieren

«Als bei mir ein Lymphom diagnostiziert wurde, habe ich mich geweigert, auf Ärzte zu hören, die mir prophezeiten, dass ich nie wieder werde singen können. Ich habe mich auf das Behandlungsprotokoll mit acht Chemo- und fünfzehn Strahlentherapiesitzungen konzentriert. Dieser Plan hat mir geholfen, meine Zweifel loszuwerden und mir den Moment vorzustellen, in dem ich geheilt sein werde. Die Hochzeit meiner Schwester und mein Debüt an der Mailänder Scala haben mich zusätzlich motiviert. Diese zwei Termine wollte ich um nichts auf der Welt verpassen. Während meiner gesamten Behandlung habe ich kaum jemandem von meinem Krebs erzählt. Ich befürchtete, es könnte hinderlich sein für meine Karriere. Aber es gibt ein Leben nach der Krankheit, und ich bin der beste Beweis dafür. Ich würde es sehr begrüssen, wenn sich die Einstellung gegenüber Kranken ändern würde, sodass sich betroffene Personen nicht verstecken müssen.»

Wissen weitergeben

«Die Migros hat mich mit Stipendien unterstützt, als ich Gesang studierte. So konnte ich mich auf mein Studium konzentrieren und musste nicht nebenher arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als das Kulturprozent mir anbot, Mentorin zu werden (siehe links), habe ich nicht lange gezögert. So kann ich etwas zurückgeben und gleichzeitig Wissen vermitteln. Konkret werde ich ein Jahr lang mit der Pianistin Alice Businaro und der Opernsängerin Béatrice Nani zusammenarbeiten. Mit ihnen möchte ich ein Projekt ins Leben rufen, das ‹Canzoni italiane› und klassische Musik miteinander verbindet. Ich möchte ihnen auch zeigen, wie man im Jahr 2024 eine Karriere erschaffen kann. Es reicht nicht mehr aus, gut zu singen, man muss auch eine Persönlichkeit entwickeln können.»

Fotos: © Aline Fournier

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