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«Les Guérisseurs»: Die Kraft der Wirklichkeit

Text

Pierre Wuthrich

Erschienen

08.04.2021

Marie Eve Hildbrand bei der Arbeit

In ihrem ersten Langfilm «Les Guérisseurs» zeigt Marie-Eve Hildbrand das fragile Band zwischen einer Pflegeperson und ihrer Patientin: ein hochaktueller Dokumentarfilm, ermöglicht durch das Migros-Kulturprozent. Zu sehen während des Festivals Visions du Réel und auf RTS2.

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und mir war dort sehr langweilig. So hatte ich Zeit, die Welt um mich herum zu betrachten», erklärt Marie-Eve Hildbrand, wenn sie gefragt wird, warum sie Filme drehen wollte. Lange und präzise Beobachtungen, geschärft durch Neugierde. Eine Neugierde, die die Eltern in ihren Kindern stets zu fördern versuchten: Die Waadtländerin hätte sie in Worte giessen und Romane schreiben können. Sie zog es allerdings vor, sie in Bilder zu übersetzen und in Filme zu fassen. Könnte sie, dann würde sie ihre Arbeit um Berührungen und Gerüche erweitern, um «die Eindrücke des festgehaltenen Moments noch besser darzustellen».

Nach ihrem Abschluss an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL) in audiovisuellen Studien (mit Auszeichnung) interessierte sich Marie-Eve Hildbrand für die verschiedenen Bereiche der Filmindustrie. Deshalb machte sie sich in der Regiearbeit kundig, indem sie «Dans nos campagnes» mitdrehte, und versuchte sich auch erfolgreich im Casting und in der Regie von Synchronsprechenden, indem sie an «Mein Leben als Zucchini» von Claude Barras mitarbeitete.

«Ich liebe alle Phasen des Drehprozesses. Bei der Suche nach einem Thema lerne ich Menschen und ihre Lebenswelten kennen. Beginne ich zu schreiben, dann ziehe ich mich zurück und bin ich mich gekehrt. Die Bestimmung der Drehorte und die Castings konfrontieren mich mit der Realität – die oft besser ist, als ich sie mir hätte vorstellen können. Dann die Dreharbeiten: eine Arbeit im Team, immer in Bewegung, und die Zeit vergeht wie im Flug! Der Schnitt schliesslich, vor allem beim Ton, hilft, den richtigen Rhythmus für den Film zu finden, seine Struktur zu verfeinern.»

Für ihren ersten Solo-Langfilm befasste sich Marie-Eve Hildbrand mit der Medizin, im Besonderen mit der Bindung zwischen dem Patienten und der Pflegeperson. Wir schreiben jetzt das Jahr 2017. Die Waadtländerin hat festgestellt, dass viele Ärztinnen und Ärzte erschöpft sind und weder Zeit noch Energie haben, eine gesunde Beziehung zu den behandelten Personen aufzubauen. «Wenn die Menschen, die sich um unsere Krankheiten kümmern sollen, fast so müde sind wie wir: Wer kümmert sich dann um uns?», fragt sich die Filmemacherin und entscheidet sich für die Teilnahme am CH-Dokfilm-Wettbewerb des Migros-Kulturprozent. 2018 gewinnt sie den ersten Preis: eine Fördergarantie von 400 000 Franken sowie 80 000 Franken von der SRG für die Realisierung ihres Projekts. «Ich war natürlich begeistert. Das ist ein sehr komfortabler Betrag, dank dem ich meinen Dokumentarfilm auf sehr professionellem Niveau drehen konnte.»

Marie-Eve Hildbrand ist nicht nur eine hervorragende Beobachterin, sie verfügt auch über Intuition: Das Thema, dem sie sich vor vier Jahren verschrieben hatte, hat heute eine ganz andere Dimension erhalten. «Die Brüchigkeit der Bindung zwischen Pflegenden und Gepflegten ist durch die Pandemie ganz besonders sichtbar geworden. Dieses Bedürfnis nach Entschleunigung, nach Rückbesinnung auf das Wesentliche, hat sich heute mit voller Wucht zurückgemeldet», sagt die Regisseurin.

Marie Eve Hildbrand

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und mir war dort sehr langweilig.

Marie Eve Hildbrand Foto: Désiréee Good

Der Mensch, eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration

Der Dokumentarfilm mit dem Titel «Healers» ist auch ein Film über Familiengeschichte. In ihrem Film zeigt Marie-Eve Hildbrand sowohl einen Allgemeinmediziner – ihren Vater – im Rentenalter, der mit der Übergabe seiner Praxis hadert, als auch junge Medizinstudierende, die mit dem Wunder des Lebens und dem Mysterium des Todes konfrontiert werden. Neben der traditionellen Medizin befasst sich der Film mit Schamanismus und Geheimnissen von «Methoden, die nicht magisch sind, sich aber bewährt haben, gerade weil es diesen Naturheilenden gelingt, eine Zeitinsel zu schaffen, wo sie sich in der Gegenwart verankern, ihre Wahrnehmung schärfen und sich besser um ihre Patienten kümmern».

Nichts geht über die Realität

Marie-Eve Hildbrands Film, der durch die Genauigkeit seiner Hauptdarstellenden berührt, wird am 15. April an der Eröffnung des Festivals Visions du Réel in Nyon seine Weltpremiere feiern. «Trotzdem wird es frustrierend sein, diese Begeisterung nicht gemeinsam erleben zu können, da die Veranstaltung in einem sehr kleinen Rahmen stattfinden wird.»

Menschen treffen und versuchen, sie zu verstehen: Das macht Marie-Eve Hildbrand weiterhin – auch wenn sie vielleicht eines Tages versucht sein wird, sich der Belletristik zu widmen. «Die Kraft der Wirklichkeit jedoch ist unschlagbar. Es gibt Leute, die wollen den Mars erforschen. Ich mache meine Erkundungen hier, bei den Menschen.»

 

Infos: «Les Guérisseurs» ist am 17. April ab 11 Uhr auf der Website visionsdureel.ch verfügbar (Preis: CHF 5.– für 72 Stunden). Ab 29. September 2021 soll der Film in den Kinos zu sehen sein.

Audiovisuelle Unterstützung

Seit 1943 unterstützt das Migros-Kulturprozent den Schweizer Film, insbesondere durch seinen CH-Dokfilm-Wettbewerb. Im Jahr 2021 wurde eine neue Form der Unterstützung eingeführt: das Storylab. Dieses Labor ist offen für alle audiovisuellen Formate (Spielfilme, Serien, Videospiele, Virtual Reality) und ermöglicht es Kunstschaffenden, zu experimentieren und ihre Ideen zum Leben zu erwecken.

Detailinfos: storylab.migros-kulturprozent.ch

Foto/Bühne: Désirée Good

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