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Wann ist ein Mann ein Mann?

Text

Ralf Kaminski, Dario Aeberli

Erschienen

16.11.2022

Sechs Männer posieren für ein Foto

Männer haben es heute nicht leicht. Nicht nur stehen sie oft unter Generalverdacht, sie sollen auch sensibel und genderflexibel sein. Was macht das mit ihnen?

Die Vorstellung von Männlichkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert: Machos wie Sylvester Stallone sind eher out, androgyne, sensible Typen wie Harry Styles eher in. Haben Sie klare Vorstellungen, wie ein Mann sein sollte? Wie er nicht sein sollte?

Hans-Ulrich Pfister: Muss er denn überhaupt irgendwie sein? Ideal wäre doch, wenn es keinen Prototyp bräuchte, wenn einfach grösstmögliche Offenheit herrschen würde, wenn alle alles sein dürften. In den 70er-Jahren gab es eine solche Offenheit schon einmal, das habe ich sehr genossen – seither ist es eher wieder enger geworden.

Nic Gaspari: Ich sehe das ähnlich. Von mir aus hätte ich mich nicht unbedingt als Mann identifizieren müssen, aber die Gesellschaft verlangt, dass ich mich festlege. Also habe ich das getan und bin nun seit 22 Jahren ein Transmann. Heute gibt es Menschen, die sich als non-binär ­bezeichnen, sich also auf kein Geschlecht festlegen wollen, aber die haben es nicht leicht. Auch ich nehme weiterhin eine Menge «Schubladisierung» wahr.

Simon Küffer: Ich finde nicht, dass die heutige Situation so anders ist als früher. Schon in den 80er-Jahren gab es andro­gyne Stars wie Prince oder Michael Jackson. Und muskelbepackte Einzelkämpfer kommen im Kino noch heute gut an. Vielleicht ist heute mehr möglich, aber man sollte nicht zu selbstgerecht sein mit der Jetzt-Zeit.

Josef Kunz: In meiner Jugend wurde man geprägt von Männern mit grosser Autorität und klaren Einstellungen, vom Vater, vom Lehrer, vom Polizisten, vom Pfarrer. Deshalb gibt es auch viele in meinem Alter, die mit den heutigen Entwicklungen Mühe haben. Aber ich finde es wichtig, dass man zu sich steht, akzeptiere das auch alles. Hundertprozentige gesellschaftliche Akzeptanz wird man wohl nie erreichen, wenn man nicht der Norm entspricht. Auch ich habe etwas Mühe damit, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften nun den traditionellen Ehen komplett gleichgestellt sind.

Diese Männer diskutieren

Hans-Ulrich Pfister

Hans-Ulrich Pfister (57)

Pfister ist Inhaber einer ­Gartenbaufirma mit fünf ­Angestellten in Herrliberg ZH. Pfister ist bisexuell, Vater einer Tochter, derzeit in Scheidung, aber bereits in einer neuen ­Beziehung mit einer Frau. Politisch steht er mitte-links.

Nic Gaspari

Nic Gaspari (48)

Gaspari ist Pfleger und lebt im Kanton Luzern. Der Transmann ist ­geschieden und hat einen Sohn. Inzwischen ist er in einer neuen ­Be­ziehung. Politisch sieht er sich ­mitte-links.

Simon Küffer

Simon Küffer (41)

Küffer alias Rapper Tommy Vercetti lehrt an der Berner Hochschule der Künste Bern, ist in einer Beziehung und Vater ­zweier kleiner Kinder. Er lebt in Bern und bezeichnet sich politisch als «links aussen».

Josef Kunz

Josef Kunz (77)

Kunz ist pensionierter Landwirt und ehemaliger SVP-Nationalrat aus Grosswangen LU. Er ist seit 50 Jahren verheiratet, hat vier Söhne, acht Grosskinder und ein Urgrosskind. Politisch ist er konservativ, bezeichnet sich jedoch als «dynamischen SVPler».

Dino Sabanovic

Dino Šabanović (29)

Šabanović ist freischaffender Musiker, Konzertveranstalter und ­studiert Soziokultur in Luzern. Er ist mit bosnischen Wurzeln in der Schweiz aufgewachsen und lebt in Zug. Politisch steht der Single links.

Oscar Neira

Oscar Neira (45)

Neira arbeitet im Verkauf und Marketing einer Softwarefirma. Er lebt mit ­seiner Partnerin, einem Hund und zwei Katzen in Uetikon am See ZH. Neira ist mit ­spanischen Wurzeln in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Er sympathisiert mit der Libertären Partei.

Dino Šabanović: Ich hatte in vielen Lebensbereichen Kon­flikte mit meinen Eltern, die durch ihre bosnische Herkunft noch recht traditionelle Vor­stellungen haben: Der Vater ist das Familienoberhaupt, ein Mann muss stark sein, darf nicht weinen. Mein Vater war bei der Luftwaffe in der jugoslawischen Volksarmee und enttäuscht, als ich sagte, ich hätte kein Bock aufs Militär. Auch meine langen Haare kommen zu Hause nicht immer gut an.

Aber generell scheint mir meine Generation sehr offen – es ist alles möglich und okay. Den typischen Mann gibt es nicht mehr, das ist auch gut so. Ich zum Beispiel komme eher feminin rüber, obwohl ich hetero bin. Und auch wenn das ab und zu irritiert, gibts in der Regel keine Probleme.

Küffer: Das klingt aber schon etwas nach einer Blasenwahrnehmung, für die gesamte Gesellschaft gilt das nicht, da ­nehme ich eher Rückwärts­be­wegungen wahr.

Gaspari: Es gibt zum Beispiel immer noch viele, die Leute wie mich abschätzig «Transe» nennen. Es hat sicher auch was mit dem Bildungsstand, der ­politischen Einstellung und der Wohngegend zu tun.

Gibt es den typischen Mann noch?

Hatten Sie eigentlich für sich ein Männervorbild, als Sie vor 22 Jahren Ihr Geschlecht angeglichen haben?

Gaspari: Nein, ich habe mir meinen eigenen Mann kreiert, in dem ich mir von allen, die ich mochte, ein bisschen was abgeschaut habe. Von daher sehe ich es so wie Dino: Den typischen Mann gibt es nicht. Vielleicht auch noch interessant: Als Frau war ich eine der ersten Offsetdruckerinnen der Schweiz, damals ein typischer Männerberuf. Heute bin ich Pfleger, sonst eher eine Frauendomäne. Als Frau in der Männerdomäne war es aber härter.

Pfister: Meine Tochter erzählt mir von Frauen in ihrem Umfeld, die davon träumen, zu Hause zu sein und sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Einerseits finde ich das seltsam, andererseits steht es mir nicht zu, das zu bewerten.

Oscar Neira: Eben. Da schwingt der Vorwurf der Rückständigkeit mit, aber wieso? Eine Frau hat doch das Recht, zu Hause zu sein, wenn sie möchte. Genauso wie ein Mann, wenn er möchte. Entscheidend ist doch, wie sich ein Paar einrichten will und worauf es sich einigen kann. Da sollte nicht die Gesellschaft kommen, und etwas als besser oder schlechter bewerten.

Küffer: Dabei dürfen wir aber wirtschaftliche und politische Umstände nicht ausser Acht lassen. Es wird immer schwieriger, eine Familie zu ernähren, ­einen stabilen Job zu haben. Ein Weg ist dann, sich als Frau einen Mann mit einem guten Einkommen zu suchen und im Gegenzug die Rolle als Hausfrau zu akzeptieren. Es scheint freiwillig und gewollt, ist aber eigentlich gesellschaftlichen Umständen geschuldet. Die gleichmütig hinzunehmen, ist leichter, als dagegen aufzubegehren.

Ich finde aufgeplusterte Machos schwierig.

Hans-Ulrich Pfister (57)

Gibt es männliches Verhalten, das aus Ihrer Sicht gar nicht mehr geht? 

Šabanović: Wenn jemand primitive Frauenwitze erzählen will, fühle ich mich verantwortlich einzuschreiten. Habe ich kürzlich beim Abbau eines ­Festivals getan.

Küffer: Frauenwitze gehen gar nicht mehr?

Šabanović: In einer öffentlichen grossen Runde, nein. Es ist vielleicht was anderes, wenn ich mit zwei alten Freunden in den eigenen vier Wänden sitze, wo man gegenseitig mit den Wertvorstellungen vertraut ist.

Küffer: Okay, aber angesichts der aktuellen Geschlechter­verhältnisse ist das schon eher ein Luxusproblem.

Neira: Und das gilt doch im Grunde für die gesamte Diskussion um «toxische Männlichkeit». Aus meiner Sicht ist alles okay, was einvernehmlich geschieht. Wenn es die anderen in der Runde ebenfalls lustig finden, darf man auch die übelsten Frauen- oder Männerwitze erzählen. Aber wenn sich jemand in der Runde wehrt, sollte man das akzeptieren und aufhören.

Pfister: Ich finde aufgeplusterte Machos schwierig. Männer, die so auftreten, als wären sie der Chef.

Neira: Aber solche Typen nimmt doch niemand mehr ernst. Wenn mir so einer begegnet, halte ich Abstand, und gut ist. 

Gaspari: Was aus meiner Sicht gar nicht mehr geht: Im Sommer mit runtergelassenen Scheiben aus dem Auto den Frauen nachpfeifen. Oder Typen, die ­ihren Frauen auf der Rolltreppe am Hintern rumfummeln. So was finde ich besitzergreifend und herabsetzend. Da werden Frauen wie Freiwild behandelt – und ich kann mich noch gut ­erinnern, wie sich das anfühlte. 

Kunz: Aber die Männerdominanz hat schon nachgelassen, wenn ich etwa zurückdenke an meinen Vater. Er sagte, wofür das Geld zu verwenden sei, und wenn mittags die Nachrichten im Radio kamen, musste absolute Stille herrschen. Gut, wir waren neun Kinder, da braucht es eine gewisse Strenge. Aber in dem Mass ­würde das heute zu Recht nicht mehr akzeptiert.

Küffer: Und dennoch bezweifle ich, dass wir an einem viel bes­seren Ort sind als früher. Es gibt auch heute noch Familien, die schauen müssen, dass genug ­Essen auf den Tisch kommt, und wo der Mann der Chef ist. Die wirtschaftlichen Umstände ­wirken sich auch auf die soziale Situation aus.

Šabanović: Ich habe einen zwei Jahre älteren Bruder, der mehr oder weniger wie ich aufgewachsen ist, aber mit seiner Frau noch ein eher traditionelles ­Rollenmodell lebt. Ich staune oft, aber die wollen das so. Allerdings arbeiten sie beide, und sie kann schon auch gegen ihn austeilen, das wäre wohl vor 20, 30 Jahren noch nicht möglich gewesen.

Ein deutscher Autor konstatierte in einem Buch zum ­Thema, dass sich Begegnungen mit Frauen heute manchmal anfühlten, als würde man mit einer Augenbinde über ein ­Minenfeld laufen – ein falsches Wort, schon explodiert was. Wie erleben Sie das im Alltag?

Küffer: So eine Aussage kann wirklich nur von einem Mann stammen (allgemeine Heiterkeit). In den reichen Industrieländern hat sich eine Gesellschaft ent­wickelt, in der privilegierte Männer es gewohnt sind, keinen Widerständen zu begegnen. Nun plötzlich funktioniert das nicht mehr ganz so wie gewohnt, und sie fühlen sich gekränkt. Das ist doch lächerlich.

Neira: Für mich sind das Stereotypen: der weisse privilegierte Mann, der Macho, die Rückständigen. Dabei haben Frauen auch früher schon ausgeteilt. Wenn sich mein Vater bedienen lassen wollte, fand meine Mutter: Du kannst dir selbst einschenken! Der Umgang miteinander ist schon lange viel vielfältiger. Eher einverstanden bin ich ­damit, dass gewisse sexistische Sprüche heute weniger gehen.

Pfister: Als ich früher in Appenzell Ausserhoden gearbeitet habe, hörte ich von den Frauen öfter: Weisst du, die Männer dürfen an die Landsgemeinde, wir nicht. Aber wir sagen dafür zu Hause, wo es langgeht. Das gilt teils heute noch.

Kunz: Es gab schon immer ­beides: Frauen, die sich wehrten, und Frauen, die sich alles gefallen liessen. Ich kann gern noch erzählen, wie ich selbst mal ­wegen so etwas in Schwierigkeiten geraten bin. Während einer Sessionspause 2006 ging ich an eine Viehschau, und eine «Blick»-Journalistin fragte, ob sie mitkommen dürfe. Vor Ort fragte sie, auf was man denn so schaue, wenn man eine Kuh ­kaufe. Ich sagte, das sei etwa ­ähnlich wie bei einer Frau: der Gesamteindruck, die Beine, die Haut und … (nicht zu verstehen vor lauter Gelächter im Raum).

Es gab dann einen riesigen ­Medienrummel: Der Kunz vergleicht Frauen mit Kühen, ist der noch tragbar? SP-Nationalrätin ­Chantal Galladé, mit der ich in der gleichen Kommission sass, verteidigte mich dann. Am Ende habe ich das unbeschadet überstanden, aber es zeigt: Schon damals war man solchen Themen gegenüber sensibel.

Mir scheint, dass junge Männer etwas ver­unsicherter sind, weil Frauen heute ­klare Grenzen setzen.

Nic Gaspari (48)

Aber ist denn nun der Umgang mit Frauen schwieriger geworden oder nicht?

Gaspari: Mir scheint schon, dass junge Männer etwas ver­unsicherter sind, weil Frauen heute eher zurückgeben und ­klare Grenzen setzen. Wer sich das früher schon getraut hat, wurde schnell als Kampflesbe oder Ähnliches abgetan. 

Pfister: Dass es diese Verun­sicherung gibt, illustrieren auch gewisse Seminarangebote für Männer: Da geht man zusammen in den Wald mit einem Coach, der einem zur Männlichkeit zurück helfen soll – man schreit rum, wälzt sich im Schlamm, kämpft miteinander.

Küffer: Also wenn es etwas gibt, das Männer nicht mehr tun ­sollten, dann sich verunsichert in Banden zusammenrotten und seltsame Sachen machen – das ist historisch immer schiefgegangen. Es mag ja sein, dass es da und dort komplizierter ­geworden ist mit den Frauen, dennoch sind wir weit entfernt von einer Gleichberechtigung oder Gleichbehandlung. 

Šabanović: Persönlich bin ich recht zufrieden mit der Entwicklung der vergangenen Jahre. Früher fühlte ich mich bei einem Date unter Druck, wenn der ­Moment kam, wo klar war, jetzt müsste ich sie küssen – ich empfand mich dabei immer ein Stück weit als übergriffig. Es ist eine enorme Erleichterung, heute erst zu fragen, ob das okay ist. 

Kunz: Ich finde dennoch, wir müssen aufpassen, dass es die ­Gesellschaft nicht übertreibt. Natürlich gibt es Grenzen, an die man sich halten muss. Aber viele getrauen sich auch harm­lose Berührungen kaum mehr aus Angst, dann gleich eines ­sexuellen Übergriffs beschuldigt zu werden. Ich denke, dass dadurch auch etwas verloren geht.

Küffer: Gleichzeitig dürfen wir nicht unterschätzen, wie oft ­solche Übergriffe passieren. Und dass viele Frauen in konstanter Angst davor leben, wenn sie etwa spätabends nach der Arbeit ­allein nach Hause müssen. Es kann ja sein, dass ein Mann beim Zusammensitzen eine beiläufige Berührung ganz harmlos meint, aber die Frau sich sofort fragen muss, ob er es als Ein­ladung für mehr auffasst, wenn sie es einfach geschehen lässt.

Eine feministische Freundin sagte kürzlich zu mir, ich sei ein privilegierter Mann. Dabei bin ich in der unteren Mittelschicht aufgewachsen und habe Migrationshintergrund.

Dino Šabanović (29)

Ist es eigentlich für alle selbstverständlich, vor einem Kuss zu klären, ob das okay ist?

Gaspari: Also ich frage auch immer.

Pfister: Bei mir passiert das einfach. Manchmal bin ich auch zu langsam, und sie macht den ersten Schritt. Und so sollte es doch sein.

Neira: Als Jugendlicher war ich wohl einer dieser typischen Macho-Secondos – die, die heute als toxisch gelten. Und ich habe damals schon alles erlebt: Der ­einen sah ich rasch in die Augen, bewegte mich etwas zu ihr – und wenn sie dann nicht zurückschreckte, kams zum Kuss. Bei anderen habe ich gefragt. Einmal hat sich eine am Tag danach ­gewundert, weshalb ich am Vorabend gezögert habe weiterzumachen. So anders scheint mir das heute nicht zu sein. 

Aber heute sind Sie kein ­Macho mehr?

Neira: (lacht) Aus damaliger Sicht wohl nicht, aus heutiger für einige vielleicht immer noch. Aber, dass ich seit 15 Jahren in einer Beziehung bin, hat sicherlich einiges verändert. Man wird älter und reifer und weiss, dass man nicht mehr überall rumschreien sollte. Das Testosteronlevel war damals bestimmt höher.

Der weisse, alte, heterose­xuelle Mann ist das neue Feindbild unserer Zeit. Fühlen Sie sich da manchmal auch angegriffen?

Šabanović: Eine feministische Freundin sagte kürzlich zu mir, ich sei ein privilegierter Mann. Dabei bin ich in der unteren Mittelschicht aufgewachsen und habe Migrationshintergrund. Dass sie mich mit allen in denselben Topf wirft, geht nicht. Es müssen nicht alle Männer ­dafür geradestehen, was einzelne Männer Frauen angetan haben.

Küffer: Die Diskussion über weisse Privilegien ist stark aus den USA beeinflusst. Ganz viele Migranten in der Schweiz sind weiss und trotzdem extremer Diskriminierung ausgesetzt. Und wer aus den untersten Einkommensklassen kommt, dem bringen die Attribute Mann und weiss nur begrenzt etwas.

Šabanović: Höchstens noch bei einer Polizeikontrolle.

Neira: Wir sind hier nun mal in Mitteleuropa und überwiegend weiss, so wie Menschen andernorts überwiegend schwarz sind. Jemandem Vorwürfe zu machen, weil er weiss ist, finde ich etwas vom Dümmsten. Das grenzt an Rassismus.

Ist es gar männerfeindlich?

Neira: Tatsächlich fühlte ich mich anfänglich angegriffen. Mittlerweile finde ich es aber nur noch lächerlich.

Šabanović: Zug, wo ich wohne, hat einen Ausländeranteil von fast 30 Prozent. Wenn ich Regierung und Parlament anschaue, fühle ich mich nicht repräsentiert – es gibt dort niemanden, der meine Lebenswelt versteht.

Küffer: Es geht doch darum, dass es eine gesellschaftliche ­Position gibt, die sich als selbstverständlich und normal anschaut – und alles andere ist eine Abweichung davon. Dafür steht die Bezeichnung «alter, weisser Mann», ich empfinde das nicht als männerfeindlich.

Gaspari: Und alles, was vondieser Norm abweicht, wird noch immer bekämpft und abgewertet.

Kunz: Je mehr Minderheiten es gibt, desto mehr Toleranz brauchen wir. Wir müssen akzeptieren, dass wir anders leben als unsere Nachbarn und uns ­gegenseitig in Ruhe lassen.

Küffer: Diskriminierung ist doch immer an etwas geknüpft: den Kampf um den Kuchen. Am Schluss stellt sich immer die Frage: Wer muss den Scheissjob machen? Und dann braucht man Gründe, diese Jobs jemandem zuzuordnen. Daher stammen die Kategorisierungen, etwa dass sich Frauen von Natur aus für die Pflege eignen und kräftige Ausländer für den Bau.

Neira: Ich finde, wir leben heute in einer Welt des extremen I­n­di­vi­dualismus. Alle wollen ihre Einzigartigkeit zelebrieren und dem Gegenüber mittels Staats­gewalt aufdrücken. Deshalb ist dieser heutige Feminismus keine soziale, sondern eine politische Bewegung, bei der es um poli­tische Macht geht. Frauen sind Männern in der Schweiz gesetzlich gleichgestellt und haben im Job dieselben Chancen.

Pfister: Andererseits beobachte ich auch eine gewisse Gleichförmigkeit. Viele stehen morgens auf, fahren zur Arbeit, kommen um 17 Uhr wieder nach Hause, gehen noch etwas in ihren Garten oder vor den TV und gehen schlafen. Ein Haus, zwei Kinder, genügend Lohn – mehr scheinen viele nicht zu brauchen, um zufrieden zu sein. Manchmal wundere ich mich darüber, denn es wäre doch noch so viel mehr möglich. 

Šabanović: Es ist halt nicht für alle leicht, aus ihrem Umfeld auszubrechen. Als Teenie ging ich gern mit meiner Gitarre an den See, barfuss und mit langen Haaren. Hin und wieder pöbelten mich dabei Gruppen von ­Secondos an, was ich denn für ein seltsamer Bosnier sei. Dahinter spürte ich aber auch immer ­etwas Neid, weil ich mich indivi­duell entfaltet und von meiner Familie emanzipiert habe. Dieses Auftreten in homogenen Gruppen war für sie Schutz und Rechtfertigung gleichzeitig.

Küffer: Ein schönes Beispiel ­dafür, dass wir Männer es verschlafen haben, uns ebenfalls zu emanzipieren. Wir bleiben vielfach in diesen alten Rollenbildern gefangen und leiden darunter – nur realisieren wir es nicht.

Wir Männer bleiben vielfach in alten Rollenbildern gefangen und leiden darunter – nur realisieren wir es nicht.

Simon Küffer (41)

Das heisst, auch Männer könnten von der Frauenbewegung profitieren?

Küffer: Ganz klar.

Gaspari: Dann müsste die emanzipierte Frau aber auch ­bereit sein, einem Mann seine weiche Seite zuzugestehen. Stattdessen heisst es oft: Der hat wohl noch nicht gemerkt, dass er schwul ist.

Pfister: Viele haben nie gelernt, diese Seite auszuleben. Obwohl es heute möglich ist.

Küffer: Es sind aber nicht nur Frauen, die dies zulassen müssen, sondern auch die Berufswelt. Frauen haben trotz ­Patriarchat und Sexismus ein Glück: Sie dürfen ihre Gefühle ausleben, mit ihren Kindern ­kuscheln und weinen. Und die männliche Rolle ist: rausgehen und das harte Leben ohne ­Murren zuertragen.

Neira: So ein Unsinn, das sind doch alles Klischees, es gab schon immer femininere Männer und maskulinere Frauen, die das auch ausgelebt haben. Ich sehe keinen Emanzipationsbedarf bei den Männern.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Trend zum sensibleren Mann und den politischen Erfolgen von Machos wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Viktor Orban? Zeigt sich darin eine Gegenbewegung?

Neira: Wir müssen schon aufpassen, was wir da hineininterpretieren. In der Politik gibt es zwei Typen: Der eine handelt aus Überzeugung und will Dinge verändern, der andere will einfach Macht und erzählt, was die Menschen hören wollen – wie Trump, Bolsonaro und Orban, aber auch Linkspopulisten. Derzeit ist die Bevölkerung gewisser Länder einfach sehr empfänglich für Populisten.

Küffer: Aber die rechten Populisten werden doch gestützt durch Antifeminismus. Zumindest bei Trump ist es eindeutig: Gegner werden verweichlicht und feminisiert. Seine Stammwählerschaft besteht aus ver­unsicherten Männern.

Neira: Es haben ihn immerhin 74 Millionen Menschen gewählt, das waren nicht nur verunsicherte Männer.

Gaspari: Klar ist: Unter Trump haben sich die USA in Geschlechterfragen, bei der Emanzipation und Gesundheitsfragen zurückentwickelt. Viel schlimmer aber ist die Lage in China oder Russland, wo Feminismus oder LGBTQ-Rechte gleich im Keim erstickt werden. 

Šabanović: Oder in einigen ­Ländern Osteuropas. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den ­Demokratien quasi zurück in die Zeit der alten Geschlechterrollen will. Für den Erfolg dieser Politiker spielen auch ­viele ­andere Aspekte eine Rolle.

Ich ­beneide junge Männer dafür, dass sie heute viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben.

Josef Kunz (77)

Zum Schluss noch etwas Persönliches: Wie ähnlich sind Sie Ihren Vätern? Und gibt es Dinge, worum Sie Männer in ­einem anderen Alter beneiden?

Šabanović: Mein Vater ist ein aufrichtiger Mann mit Haltung, der sich immer wieder neu erfinden konnte. Ich glaube, darin ähneln wir uns, auch wenn ich offener und kommunikativer bin. Ich beneide ältere Männer darum, dass sie alle noch ein ­eigenes Haus kaufen konnten.

Kunz: Mein Vater war ein sehr strenger, gläubiger Mann, der mir ein paar gute Ratschläge mitgegeben hat, aber allzu ähnlich sind wir uns nicht. Ich ­beneide junge Männer, dass sie heute viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben.

Gaspari: Ich weiss fast nichts von meinem Vater, ausser dass er zu seiner Meinung stand. Da ähneln wir uns. Ich beneide die Jungen, dass der Kampf um Akzeptanz, etwa als Transmensch, einfacher geworden ist. Und die Älteren um ihre Erfahrung.

Pfister: Ich ähnle mehr meiner Mutter, die war auch ein Paradiesvogel. Ich beneide niemanden, aber ziehe den Hut vor den Älteren. Die mussten chrampfen, um am Sonntag einen Zopf zu kaufen, während heute schon junge Menschen in ihrer eigenen Wohnung leben.

Neira: Auch ich ähnle eher meiner Mutter, aber die Tiefenentspanntheit habe ich von meinem Vater. Die Jungen beneide ich nicht – im Gegenteil. Ich wuchs in einer Zeit ohne Facebook auf, in der man noch Mist bauen durfte, ohne dass die ganze Welt davon erfuhr. Und verglichen mit uns finde ich die Jungen heute etwas verweichlicht.

Küffer: Mein Vater ist ein fürsorglicher, loyaler und selbst­loser Mensch, und ich versuche, mich an ihm zu orientieren, was mir leider etwas zu wenig gelingt. Ich beneide die Älteren um ihre Stabilität und die Zukunftsaussichten, die sie damals hatten. Mein Vater ist italienischer Secondo und hat es mit Arbeit in die Mittelschicht geschafft. Ich bin 41 und weiss gerade mal, wie ich die nächsten sechs Monate Geld verdienen werde. Die Jungen beneide ich um ihre Zeit.

Fotos: Jorma Müller

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