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Ist die Paarbeziehung ein Auslaufmodell?

Text

Yvette Hettinger

Erschienen

21.09.2023

Paar steht vor Fenster

Das Leben ist nur als Liebespaar lebenswert – das suggerieren uns Märchen, Hollywood und Literatur. Schluss mit dieser Romantisierung, fordert Soziologin Andrea Newerla.

Ihr Buch heisst «Das Ende des Romantikdiktats». Was meinen Sie damit?

Es geht um die Liebesgeschichten, die wir von Geburt an immer wieder erzählt bekommen. Märchen, Disney, Hollywood, aber auch poupuläre Erzählungen handeln von der erfüllenden Findung zweier Menschen, die – oft schicksalshaft zusammengeführt – für immer glücklich zusammenbleiben, bis zum Ritt in den Sonnenuntergang. Das wird uns als Norm präsentiert und ist wirkmächtig.

Was ist das Problem daran? Romantik ist doch etwas Schönes.

Die erfüllende Paarbeziehung hat dadurch eine Vorbildfunktion bekommen, die ein bestimmtes ideales Gesellschaftsbild konstruiert. Diesen Idealen können wir uns kaum entziehen, sie prägen die Gesellschaft und stellen Erwartungen an alle, daher spreche ich von Diktat. Wer sich nicht in das Modell Paarbeziehung einfügen will oder kann, gilt als abnormal oder beziehungsunfähig, unreif, kauzig oder sonst irgendwie seltsam. 

Welches ist zur Zeit die wichtigste Beziehung in deinem Leben?

Warum sind wir für diese Romanzen so empfänglich?

Weil die Geschichten mit Versprechen verbunden sind, etwa dass jeder Topf mit dem passenden Deckel glücklich wird. Und wir wollen ja glücklich sein und das Leben mit anderen teilen. Leider werden Erfüllung und Zufriedenheit mit anderen gesellschaftlichen Konstellationen nicht versprochen – zum Beispiel Eltern, die nicht zusammenleben. Oder Paare, die zusammenleben, aber die Liebe nicht das Zentrum ihrer Beziehung ist. Frauen und Männer, die mit verschiedenen Menschen Intimität leben, oder Singles, die alleine oder in einer WG mit Freunden leben. Das wäre aber interessant und wichtig.

Die Paarbeziehung hat ja auch unbestritten ihre Vorteile: Man kann Kosten teilen, Kinder gemeinsam grossziehen, Hausarbeit aufteilen, ist nie allein. 

Natürlich, und ich möchte die romantische Paarbeziehung auf keinen Fall schlechtreden, sie kann etwas sehr Schönes sein. Aber ich bin für das Ende der fixen Vorstellung, dass es nur so gehen kann. Auf mein Buch habe ich sehr positive Rückmeldungen bekommen, von Menschen, die durch diese Diskussion eine Entlastung spüren. Sie hielten sich selber für merkwürdig, weil sie die Erfüllung nicht in der Zweierbeziehung fanden. 

Wie kann ich mich aus der Romantikfalle befreien, wenn ich selber merke, für mich passt das nicht?

Für den Einzelnen ist es schwierig, dagegen anzukämpfen. Man muss sich ja immer ein wenig rechtfertigen, wenn man etwas Anderes wählt, als das, was als normal gilt. Nein zu sagen, braucht reichlich Selbstbewusstsein, daher ist es für viele einfacher, sich der Norm zu fügen. Sich nicht erklären zu müssen ist aber wichtig für die, die wirklich ihren Deckel nicht finden und für alle, die aktuell sonst irgendwie aus der Norm fallen. Sie sollen nicht mehr als absonderlich gelten.

Es bräuchte also Hollywoodfilme über glückliche Singles oder erfüllende unkonventionelle Arten von Beziehung?

Zum Beispiel. Aber auch über Freundschaften: Wir sollten unbedingt anerkennen, in welchen Freundesbeziehungen wir leben und was da für ein Potenzial drin ist. Freunde können auch Liebe und Geborgenheit geben, da gibt es ebenfalls Verbundenheit und Fürsorge.
 

Wie denkst du über Paarbeziehungen?

Woher kommt eigentlich die Blaupause der Paarbeziehung?

Vor ungefähr 240 Jahren wurde die romantische Liebesehe zur gesellschaftlichen Norm. Zuvor hatte es die Zweckehe gegeben, die aus politischen und existenziellen Gründen geschlossen worden war. Dann kam die Romantik, und zunehmend galt das geteilte Gefühl als glückbringend. Damit muss die Paarbeziehung aber sehr vieles erfüllen. Der Sex soll toll sein, man will gute Gespräche führen und immer füreinander da sein. Und das alles in einer einzigen Beziehung! Damit liegt eine grosse Last auf der romantischen Liebe. Kein Wunder, dass Ehen immer weniger lang halten und wir Beziehungen vermehrt seriell führen. 

Zeichnet sich ein Wandel ab?

Die jüngeren Generationen vernetzen sich anders, etwa in den Sozialen Medien. Und sie finden sich ohne Paarbeziehung nicht mehr so am Rande der Gesellschaft wie früher. 

Und die Älteren?

Sie haben es noch schwer, zu sagen, dass sie nicht in einer Partnerschaft leben. In ihrem Freundeskreis spricht man nicht darüber, es gibt auch keine Vorbilder. Darum brauchen wir neue Geschichten. Damit die betroffenen Menschen merken: Ich bin ja gar nicht allein. 

Andrea Newerla

Die Soziologin Newerla hat ein Buch zum Thema veröffentlicht: «Das Ende des Romantikdiktats – warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten.» Dieses ist für Fr. 23.90 bei exlibris.ch erhältlich.

Kommen diese Erzählungen?

Ein bisschen was gibt es. Zum Beispiel der Roman «Gespräche mit Freunden» von Sally Rooney. Es ist dort nicht eindeutig, welche Formen die Beziehungen haben. Sie sind zwar romantisch, aber auch Freundschaft ist zentral, und es gibt sexuelle Komponenten. Und nichts von alledem wird irgendwie gewertet.

Sie finden, dass sich auch politisch etwas ändern muss.

Absolut. Es wird notwendig, nicht nur die Ehe und die Kernfamilie zu schützen und zu stützen, sondern auch Gemeinschaften von Menschen, die füreinander da sein wollen. Tatsächlich hat die Deutsche Bundesregierung die Berücksichtigung von Verantwortungsgemeinschaften im Koalitionsvertrag drin. Das ist wichtig, auch weil die alternde Gesellschaft sonst von niemandem getragen wird. Wir brauchen einander. Dafür benötigen wir neue Ideen, und zwar solche, die nicht ausschliessend sind. 
 

#freundschaftsinitiative

Das Migros-Kulturprozent lädt mit der #freundschaftsinitiative die Bevölkerung ein, soziale Beziehungen zu pflegen. 

Mit dem Ideenwettbewerb haben wir Projektideen gesucht, die die Möglichkeit bieten, neue Freund*innen zu finden, bestehende Kontakte zu pflegen und langjährige Beziehungen zu stärken. 

Foto/Stage: GettyImages

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