
Es werden wichtige Entscheidungen in Bezug aufs Business diskutiert: Lilo Fritz (links) und Claudia Meyr, Gründerinnen des Materialmarkts Offcut in Bern. Foto: Raffael Waldner
Nun sitzen sie hier. Am langen Holztisch, inmitten von Stoffballen, Papierrollen, Gläsern voller Gipspulver und Kisten mit Kabeln und Schrauben. Lilo Fritz (55) und Claudia Meyr (51) diskutieren in ihrem Materialmarkt in Bern über die Warenpräsentation.
Anfang Jahr haben sie Offcut Bern eröffnet. Sie verkaufen gebrauchte und Restmaterialien, damit sie nicht einfach im Abfall landen. Tausend Stunden haben die beiden Frauen zusammengesessen und überlegt, wie und wo sie «ihr Baby» aufziehen.
Die vergangenen 30 Berufsjahre haben beide mit ganz anderen Dingen zugebracht. Claudia Meyr in der Kommunikation und Lilo Fritz in den Bereichen Floristik und Administration. Unabhängig voneinander stiessen sie auf die Idee des Materialmarkts und fanden: einen solchen braucht es auch in Bern. Über das vom Migros-Pionierfonds geförderte Projekt Offcut Schweiz fanden Meyr und Fritz schliesslich zusammen.
«Vor unserem ersten Treffen dachte ich, Lilo sei noch ganz jung, wie das im Nachhaltigkeitsbereich oft so ist», sagt Claudia Meyr. Sie selber war damals knapp 50. «Als ich eine ältere Frau vor mir hatte, war ich ein wenig erleichtert», sagt Meyr und lacht.

Schon in ihrer Kindheit sammelte Lilo Fritz Stoffresten. Diese gibt es auch in ihrem Materialmarkt Offcut in Bern.
Wir haben beide viel Erfahrung und waren uns bewusst, worauf wir uns einliessen.
Lilo Fritz Gründerin Offcut Bern
Eine gemeinsame Faszination für die Materialien und die Nachhaltigkeit
Nicht nur, aber auch des Alters wegen hätten sie sich auf Anhieb verstanden, ergänzt Lilo Fritz. Die Basis stimmte. «Wir haben beide viel Berufs- und Lebenserfahrung und waren uns bewusst, worauf wir uns einliessen.» Dass viele Stunden Arbeit folgen würden, für die Standortsuche, die Einrichtung, die Personal- und Materialsuche, aber auch für Themen wie Kassensysteme und Buchhaltung. Und dies neben den bisherigen Jobs.
Die gemeinsame Faszination für die Materialien und die Nachhaltigkeit habe geholfen. «Wir sind damit aufgewachsen, Sachen nicht einfach so wegzuwerfen», sagt Lilo Fritz. Sie erinnert sich an «Frau Nützlich», die sie als Kind zu Hause hatte. «Das war eine Truhe, in der meine Mutter Stoffreste oder leere Schachteln aufbewahrte. Damit bastelte ich, wenn mir langweilig war.» Offcut sei wie Frau Nützlich von damals, einfach in gross.
Ältere sind öfter selbständig
Dass sie als Gründerinnen nicht mehr ganz so jung sind, ist für die beiden Frauen heute kaum mehr ein Thema. Wie sie machen es viele. Ein Blick in die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung zeigt: Der Anteil der Selbständigen nimmt mit steigendem Alter zu. Klar, nicht alle sind Pionierinnen und Pioniere.
Aber die Zahlen illustrieren die Tendenz. Am höchsten ist der Anteil Selbständiger mit knapp 20 Prozent bei den 55- bis 64-Jährigen. Bei den 40- bis 45-Jährigen sind es gut 15 Prozent, bei den 25- bis 39-Jährigen nur 7 Prozent. Die Selbständigen sind im Schnitt auch rund sieben Jahre älter als Angestellte. Das deutet darauf hin, dass man erst einige Jahre angestellt ist, bevor man sein eigenes Ding macht.
Das war auch bei Andreas Kronawitter so. Nach 18 Jahren bei Firmen wie SBB und BLS machte sich der 52-jährige Astrophysiker vor drei Jahren selbständig. Er lancierte mit Mybuxi einen Fahrdienst auf Abruf für den ländlichen Raum. Eigene Ideen, wie smarte Mobilität funktionieren soll, hatte Kronawitter schon seit Längerem.
Ideen müssen manchmal gar nicht neu sein
«Ich hatte aber immer Respekt vor der Kundenakquise, weil ich mich nicht sehr gut im Verkaufen fand.» Mit wachsender Berufserfahrung bemerkte er: «Wenn ich von einer Sache richtig überzeugt bin, kann ich das.» Klar sei er kein Mark Zuckerberg mehr, der mit 20 Facebook gründete. «Die Themen Gründung und Innovation scheinen für Ältere schwieriger, weil sie mehr Abhängigkeiten haben als Junge, die gerade die Ausbildung abgeschlossen haben.» Dafür wissen Ältere, wie wichtige Probleme gelöst werden, und neigen vielleicht weniger dazu, die Bodenhaftung zu verlieren.
Kronawitter hält sich mit Weiterbildungen und durch die Vernetzung in der Branche technologisch à jour. Manchmal müssten Ideen gar nicht neu sein. «Man kann auch Bestehendes neu kombinieren und pionierhaft weiterentwickeln.» Sicher seien flexibles Denken und schnelles Handeln wichtig. Als im Corona-Lockdown die Nachfrage nach Mitfahrgelegenheiten abnahm, gleiste Kronawitter innert weniger Tage einen Heimlieferdienst auf. Heute fragt er sich manchmal, wieso er nicht schon vor Jahren «sein eigenes Ding» umgesetzt hat. «Aber vielleicht wäre es nicht gut gekommen.»
Erfahrung macht erfolgreich
Im Alter erfolgreicher? Ja, sagen Forscher des Massachussets Institute of Technology (MIT) in den USA. In der Studie «Der zwanzigjährige Gründer ist eine Lüge» analysierten sie den Zusammenhang zwischen dem Alter des Gründers und dem Erfolg seines Start-ups. Gründer besonders erfolgreich wachsender Start-ups waren zum Startzeitpunkt im Schnitt über 40, bei den allerbesten Firmen über 45 Jahre alt.
Gute Ideen kommen in jedem Alter, sie brauchen aber Erfahrung, um sie erfolgreich zu machen, so die Studienautoren. Steve Jobs ist ein gutes Beispiel. Mit 21 gründete er Apple mit. Es vergingen aber 23 Jahre, bis die Firma den iMac lancierte.
Das Netzwerk öffnet Türen
Umweltingenieur hat sich mit Mitte 30 mit ganzheitlicher Beratung in der Kreislaufwirtschaft selbständig gemacht. Das war zu Beginn doppelt schwierig. Die Kreislaufwirtschaft – vereinfacht gesagt: wiederverwerten statt wegwerfen – war damals ein recht neues Konzept. «Zudem hatten wir als junge Berater noch wenig vorzuweisen. Uns fehlten Glaubwürdigkeit und das Netzwerk.» Das sei heute längst passé.
Nun will Schelker es nochmals wissen: Mit seinem neuen Projekt Realcycle will er ein Kompetenzzentrum für eine nachhaltige Kunststoff-Kreislaufwirtschaft aufbauen. «Heute kennt man mich in der Branche viel besser und weiss, was ich kann. Das öffnet viele Türen.» Er gehe heute auch anders an das Projekt heran als noch vor 20 Jahren.
«Ich trete selbstsicherer auf.» Über all die Jahre habe er ein Netzwerk, Wissen und Argumente erarbeitet, die überzeugen können. «Es braucht den Mut, einen möglichen Flop zu landen, sonst gibt es keine Innovation mehr», sagt er. Ein guter Teil des Erfolgs hänge auch von Erfahrung und Selbstsicherheit ab.
Mut und Selbstvertrauen sind wichtig
Auch die Offcut-Ladys sind überzeugt, dass Mut und Selbstvertrauen wichtig sind. «Mit den Jährchen entwickelt man Gelassenheit und die Zuversicht, dass es schon gut kommt», sagt Claudia Meyr. Angst zu scheitern haben sie nicht. «Es gibt im Leben kein Scheitern», sagt Lilo Fritz. «Es geht vielmehr ums Ausprobieren und Lernen.»
Ausgelernt haben sie freilich noch lange nicht. Im Moment diskutieren sie, wie sie sich als mittlerweile siebenköpfiges Team aufstellen und wie die Führungsstruktur aussehen soll. Genug Stoff, um viele weitere Stunden am langen Holztisch zu sitzen.
Hinter den Erfolgen steckt ein harter Weg.
Matthias Filser Leiter Zentrum für Unternehmertum der ZHAW
Viel Zeit und Energie muss investiert werden
Ältere Gründerinnen und Gründer punkten mit Effizienz, jüngere denken gross. Start-up-Kenner Matthias Filser über Erfolgsfaktoren und Stolperfallen.
Matthias Filser, Pioniere sind in unseren Köpfen jung. Wieso?
Die Jungen sind eher davon getrieben, Neues zu schaffen, Dinge neu zu denken. Vor allem in der Nachhaltigkeit, im Nutzen für die Gesellschaft und Umwelt und in der Anwendung von Technologien sind sie oft die Innovationstreiber. Es gibt einige bekannte junge Gesichter, die man mit tollen Erfolgen verbindet. Darüber wird gern berichtet und geschrieben. Das bleibt in unseren Köpfen hängen.
Sind die Jungen die besseren Pioniere?
Sie haben einen Vorteil bei neuen Technologien, sie haben meist einen leichteren Zugang. Viele Innovationen im Tech-Bereich stammen von Jüngeren, die mit diesen Technologien aufgewachsen sind. Sie denken gross und sind bereit, Etabliertes nicht als gesetzt zu definieren.
Wo liegen die Stärken von älteren Gründerinnen und Gründern?
Im bewährten Wissen und in ihrer Erfahrung. Sie gehen Themen oft fokussierter an, meist abgeleitet aus Problemstellungen im eigenen Arbeitsumfeld. Durch ihre Erfahrung und Netzwerke – ein entscheidender Faktor – gelangen sie meist effizient zum Erfolg.
Die Erwerbszahlen zeigen, dass die meisten sich erst nach 40 selbständig machen – auch, wenn das nicht alles Pioniere sind.
Das hat auch mit den Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun, der neue Kompetenzprofile verlangt. Bei vielen führt dies in der Folge in die Selbständigkeit. Hier steht jedoch nicht bei jeder Gründung eine radikale Innovation im Zentrum. Andere wollen sich ein zweites Standbein schaffen.
Wer ist denn nun besser, ältere oder jüngere Pioniere?
Unabhängig von der Generation ist wichtig, dass es Macher sind. Ist jemand wirklich bereit, viel Zeit und Energie zu investieren, um erfolgreich zu sein? Hinter den meisten Erfolgen steckt oft ein längerer, harter Weg. Ich habe den Eindruck, dass Jüngere heute oft von den Erfolgsstorys und Millionen-Exits geblendet sind, aber den Weg dorthin nicht in Betracht ziehen.

Förderung von Pionierprojekten
Offcut, Mybuxi und Realcycle werden vom Migros-Pionierfonds unterstützt. Der Förderfonds ist Teil des freiwilligen gesellschaftlichen Engagements der Migros Gruppe. Er ermöglicht Pionierprojekte, die im gesellschaftlichen Wandel neue Wege beschreiten und zukunftsgerichtete Lösungen anstreben. Mittlerweile hat er über 90 Projekte gefördert, in Bereichen wie Ernährung, Digitalisierung oder Kollaboration. Migros-Unternehmen wie Denner, Migros Bank, Migrolino oder Migrol investieren dafür jährlich zehn Prozent der Dividenden, insgesamt 10 bis 15 Millionen Franken.
Foto/Bühne: Rafael Walder
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