Mein Vater, der Priester
Erschienen
21.07.2022

Katharina Arzt ist nach dem frühen Tod der Mutter bei deren bester Freundin aufgewachsen. Ihr Vater pflegte im Verborgenen engen Kontakt zu ihr. Hier erzählt die 41-Jährige ihre Geschichte.
«Meine Eltern hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Mein Vater war Pfarrer in einer katholischen Kirchgemeinde in Köln, meine Mutter arbeitete dort als Sozialarbeiterin. Natürlich konnten sie ihre Liebe nicht offen leben. Ich weiss, dass sich meine Mutter schon länger ein Kind gewünscht hatte. Mein Vater plante nicht, ein Kind zu bekommen. Doch als ich unterwegs war, entschied er sich klar für mich. Er war sogar bei meiner Geburt dabei. Offiziell als Fotograf. Deshalb habe ich Fotos von meiner Geburt – das gab es in der damaligen Zeit wahrscheinlich nicht so oft. Kurz danach anerkannte mein Vater die Vaterschaft.
In seiner Kirchgemeinde konnte er nicht bekannt geben, dass er ein Kind bekommen hatte. Der Bischof jedoch, sein Vorgesetzter, wusste es. So wie ich das mitgekriegt habe, hat man meinem Vater empfohlen, keinen Kontakt zu mir zu haben. Das hielt er aber nicht ein. Wir lebten sogar eine Weile zusammen in einer Art Wohngemeinschaft. Es war ein altes Haus, in dem Zimmer an verschiedene Leute vermietet waren. Ich lebte mit meiner Mutter dort, und mein Vater mietete ebenfalls ein Zimmer.

Der Vater besucht die damals dreijährige Katharina. Später liess er sich nach Basel versetzen, damit die Distanz zur Tochter nicht zu gross wurde.
Ich habe kaum Erinnerungen an die Zeit, bevor meine Mutter gestorben ist. Ich sehe aber noch vor mir, wie sie im Bett liegt und ich zu ihr sage: ‹Komm, steh auf und spiel mit mir!› Doch jemand sagt: ‹Das geht jetzt nicht, leg dich einfach ein bisschen zu ihr.› Als sich meine Mutter entschied, ins Krankenhaus zu gehen, war es schon zu spät. Sie war nur zwei Tage dort, dann starb sie an einer Lungenentzündung. Da war sie knapp vierzig. Und ich dreieinhalb.
Als nach dem Tod meiner Mutter klar war, dass ich bei ihrer besten Freundin im Jura aufwachsen würde, liess sich mein Vater in die Schweiz versetzen. Er zog in die Nähe von Basel. Und ich lebte mit meiner Zweitmutter, deren Freund und deren Sohn in einer Lebens- und Produktionsgemeinschaft im Jura, früher eine Kommune.
Katholisch – und anthroposophisch
Wie mir meine Zweitmutter erzählte, wachte ich anfangs jede Nacht auf, musste weinen und wollte zu meiner Mutter. Meine Zweitmutter stiess ich von mir weg. Sie zog sogar Pullis von meiner Mutter an. Sie probierte alles, um mir ein heimeliges Gefühl zu geben. Sie versuchte, mir alle Liebe zu ersetzen. Ich nässte ein, musste wieder Windeln tragen und schlief teilweise nur auf ihrem Bauch.
Als ich in der ersten Klasse war, zogen wir um. Wir lebten wieder in einer anthroposophischen Gemeinschaft, und meine Zweiteltern arbeiteten als Hauseltern in einer Rudolf-Steiner-Heimschule. Wenn mein Vater bei uns war, schlief er auf einer Matratze in meinem Zimmer. Alle wussten, dass dieser Mann mein Vater war – und Priester. Das war kein Thema. Für ihn und dadurch auch für mich gab es kein Spannungsfeld zwischen dem Katholizismus, in dem er sich bewegte, und der anthroposophischen Welt, in der ich lebte. In beiden spielen die Werte Menschlichkeit, Gemeinschaft und Wertschätzung für das, was einem gegeben wird, eine grosse Rolle. Und mein Vater sieht den Katholizismus sowieso kritisch. Das war schon immer so.

Als ich sieben war, erklärte er mir, dass er Priester sei und was das bedeute.
Katharina Arzt
Als ich sieben war, erklärte er mir, dass er Priester sei und was das bedeute. Ich erinnere mich an das Gespräch unter vier Augen in unserem Garten, doch die Information beeindruckte mich nicht gross. Wahrscheinlich verstand ich es noch nicht so richtig, oder es war mir egal, weil es für mich keinen Unterschied machte. Erst nach und nach begriff ich, dass es unter diesen Umständen schon seine Besonderheit hat, dass es mich gibt.
Offiziell war ich das Pflegekind meiner Zweitmutter. Vom Gefühl her ist sie meine Mutter. Am Anfang nannte ich sie Mama, irgendwann wechselte ich zum Vornamen. Ich wusste immer, dass ich noch eine andere Mutter habe. Meine Zweitmutter erzählte dauernd Sachen von ihr – das tut sie heute noch. Sie sagt: ‹Deine Mutter hätte jetzt wahrscheinlich das und das gesagt oder dir das und das geschenkt.› Meine Zweitmutter hielt meine Mutter wertschätzend präsent.
An Weihnachten in «seine» Messe
Lange dachte ich, dass mir meine Mutter nicht viel mitgeben konnte, weil ich ja nur bis dreieinhalb bei ihr war. Doch seit ich selbst ein Kind habe, merke ich, was für eine wichtige Zeit das ist. Dass in der Schwangerschaft und im Kleinkindalter viele Grundlagen gelegt werden. In den vergangenen Jahren sagte ich meiner Zweitmutter immer wieder, wie dankbar ich ihr sei, dass sie mich auffangen konnte, sodass ich keinen Schaden davontrug. Sie antwortete: ‹Deine Mutter hat die Grundlagen gelegt.›
Ab und zu war ich über Weihnachten beim Vater und besuchte seine Messe. Beim Gottesdienst, in dem er in die Pension verabschiedet wurde, sang ich in der Kirche. Offiziell als Patenkind. Dass ich nicht als Tochter in Erscheinung treten durfte, war für mich kein Problem. Ich weiss, dass sich andere Priesterkinder ungewollt fühlen, doch mein Vater war stets für mich da.
Heute noch stelle ich fest, dass es die Leute irritiert, wenn ich von meiner Kindheit erzähle. Manche sind entsetzt und sagen: ‹Krass! Du Arme!› Dann antworte ich: ‹Keine Sorge, es geht mir gut. Das ist einfach meine Geschichte.›

Aus «Anders aufgewachsen – 11 Kindheiten im Porträt» von Seraina Sattler/Anna Six, Verlag Christoph Merian 2022; Fr. 24.80 bei exlibris.ch
Vater, Mutter, Kind?
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Fotos/Bühne: Simon Koy
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