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Dieser Ex-Kriminelle macht Schule

Text

Rahel Schmucki

Erschienen

23.03.2023

Ilias Schori, auf dem Kasernenareal, in Zürich.

Heim, Jugendknast, Gefängnis. Ex-Häftling Ilias Schori, 28, will Jugendliche davor bewahren, auf die schiefe Bahn zu geraten – und geht darum auf Schulbesuch

«Hier möchte ich nie wieder hin», sagt Ilias Schori. Der 28-Jährige steht mit seinem Hund auf dem Kasernenareal in Zürich. Vor ihm der graue Zellenblock, in dem er mehrmals in Polizeihaft sass.

Schoris Strafregister liest sich wie das Inhaltsverzeichnis des Strafgesetzbuches: Diebstahl, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Gewalt gegen Beamte, Drohungen, Fälschen von Ausweisen, Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz – und das ist nur ein kleiner Auszug. Aber Schori ist überzeugt: «Diese Zeiten sind definitiv vorbei.»

Seit November 2019 ist Schori «draussen», wie er sagt. Seine letzte Strafe – knapp drei Jahre wegen schweren Einbrüchen und Diebstahl – hat er unter anderem in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies abgesessen, dem grössten Gefängnis in der Schweiz. Als Ex-Häftling ohne abgeschlossene Ausbildung war es für ihn schwierig, eine Arbeit zu finden. «Wenn etwas im Betrieb passiert, würdest du als erster verdächtigt», hiess es zum Beispiel.

Gefangene helfen Jugendlichen

Der Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» organisiert Schulbesuche, bei denen ehemalige Häftlinge von ihren Erfahrungen berichten. So sollen falsche, glorifizierende Vorstellungen von Kriminalität entkräftet werden «Durch die Authentizität der Ex-Kriminellen, sind die Jugendlichen bereit hinzuhören. Das ist der erste Schritt für ein Umdenken», sagt Andrea Thelen, Geschäftsführerin des Vereins.

Weitere Informationen unter: www.gefangenehelfenjugendlichen.ch

Nicht wie im Mafia-Film

Da kam die Anfrage vom Verein «Gefangene helfen Jugendlichen». Der Verein leistet Gewaltprävention für Jugendliche. Seither besucht Schori Schulklassen und erzählt den Schülerinnen und Schülern von seiner Vergangenheit. «Ich lasse die Hosen runter und erzähle, wie ein Leben in der Kriminalität wirklich aussieht.»

Und diese Wirklichkeit habe wenig mit den Mafia-Filmen zu tun, die Gewalt verherrlichen und den Jugendlichen ein falsches Bild vermitteln. «Es ist eher ein riesiger Stress», sagt Schori. Vier Lektionen dauert ein solcher Schulbesuch, die Schüler dürfen alles fragen.

Dass Schori bei den Jugendlichen Eindruck macht, kann man sich gut vorstellen. Beim Erzählen schaut er einem selbstbewusst direkt in die Augen. Er drückt sich gekonnt aus. Seine Vergangenheit hingegen bringt man mit dem sympathischen, offenherzigen und einfühlsamen jungen Mann kaum zusammen.

Einzig seine Tattoos an Hals und auf den Händen erinnern noch an diese Zeit. Unter seinem rechten Ohr prangt eine Pistole mit Flügeln, auf einem Finger steht «Führe mich nicht in Versuchung», auf dem Handrücken «Si vis pacem para bellum», lateinisch für «Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor».

Ilias Schori, Ex-Häftling, im Kreis 4, wo er früher häufig unterwegs war

Hier war er früher oft unterwegs, heute meidet er die Langstrasse in Zürich lieber: Ex-Häftling Ilias Schori.

Ich lasse die Hosen runter und erzähle, wie ein Leben in der Kriminalität wirklich aussieht.

Illias Schori

«Beim ersten Schulbesuch bin ich vor Nervosität fast gestorben. Meinen letzten Vortrag hatte ich in der 1. Oberstufe zu Eminem», sagt Schori. Trotz aller gezeigten Selbstsicherheit koste es ihn heute noch Überwindung, über seine Vergangenheit zu sprechen. Auch wenn er jetzt erzählt, zittern seine Hände, wenn auch kaum merklich. «Aber ich will nichts verschweigen und bei der Wahrheit bleiben.»

Schori ist das zweite von sechs Kindern. Zuhause im Zürcher Unterland erlebt er keine glückliche Kindheit. Mehr möchte er dazu nicht sagen, seinen Eltern zuliebe. Bereits in der Primarschule fällt er auf, weil er sich prügelt. «Ich kannte nichts anderes», sagt er heute. In der fünften Klasse wird er von der Schule geschmissen und muss in eine Kleinklasse wechseln. Da ist er mit Jugendlichen in einer Klasse, die bereits die dritte Oberstufe besuchen.

«Statt Mathe und Deutsch, lernte ich, wie man kifft und raucht.» Doch auch aus dieser Klasse fliegt er wegen Gewalt und verbringt seine Tage fortan bei seinem Vater, der sich von der Mutter getrennt hat. Mit 14 Jahren holt ihn die Polizei ab und er landet in einem Jugendheim.

Ständig unter Stress

Nach drei Monaten ist auch hier Schluss. «Ich habe alles kurz und klein geschlagen und wurde immer wieder in eine Isolationszelle eingesperrt. Ich war völlig ausser Rand und Band», erinnert er sich. Danach reiht sich auf seinem Lebenslauf eine Institution nach der anderen.

Jugendheime, Jugendknast, Erziehungsanstalt. Zwischendurch haut der noch Minderjährige immer wieder ab, schläft auf der Strasse, klaut, um sich Essen zu besorgen und begeht mit anderen Jugendlichen Einbrüche. «Wir fühlten uns cool dabei», sagt Schori.

Ich war damals süchtig und hätte den Entzug nie allein geschafft.

Ilias Schori

Je älter er wurde, desto schwerwiegender wurden seine Vergehen. Einbrüche, Handel mit Drogen, Drohungen mit Waffen. «Aber ich habe nie auf jemanden geschossen oder jemanden verletzt. Das war meine Grenze», sagt er.

Vom coolen jugendlichen Gangstertum war längst nichts mehr übrig. Er stand ständig unter Stress, fühlte sich verfolgt und konnte nicht schlafen. Mit 23 wird er erneut von der Polizei erwischt. «Zum Glück. Ich war damals süchtig und hätte den Entzug nie allein geschafft.»

Wieder landete er im Gefängnis – diesmal in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, in der auch Mörder und Vergewaltiger sitzen. Diese Zeit war schrecklich», sagt er. Er schwor sich, nie mehr straffällig zu werden. «Ich hatte bereits 15 Jahre meines Lebens verloren.»

Fakten Jugendgewalt:

  • Fast alle Jungen und die meisten Mädchen begehen mindestens eine Straftat bis zum Beginn des Erwachsenenalters. Dabei handelt es sich überwiegend um leichte Delikte, wie etwa Ladendiebstahl. Aber viele dieser Delikte werden in der Statistik nicht festgehalten, da die Jugendlichen oft nicht erwischt werden.
  • 2021 wurden 17 801 Jugendliche verurteilt. 7 894 haben gegen das Strafgesetz verstossen (zum Beispiel Diebstahl oder Körperverletzung), 4 242 gegen das Strassenverkehrsgesetz (zum Beispiel zu Schnelles Fahren), 3 220 gegen das Betäubungsmittelgesetz (zum Beispiel Konsum oder Handel von Canabis) und 3 553 gegen das Personenbeförderungsgesetz (Schwarzfahren). 
  • Über 76 % der Straftaten wurden von männlichen Jugendlichen begangen
  • Knapp 65 % aller Straftaten werden von Jugendlichen mit einem Schweizer Pass verübt. Knapp 26 % von Jugendlichen mit einem ausländischen Pass (ohne Asyl) und 9,5 % von anderen Ausländern.
  • 6,6 % von allen Jugendlichen begehen 80 % aller Taten
  • Weitere 18,2 % aller Jugendlichen begehen die restlichen 20 % aller Taten
  • 64,4 % der Intensivtäter (mehr als 5 Taten) sind männlich
  • 22.8 % der Intensivtäter erfuhren schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern

Quellen: Bundesamt für Statistik, Studie Jugenddelinquenz in der Schweiz 2022, Prof. Dr. Patrik Manzoni et al

120’000 Franken Schulden

Seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde, kämpft er sich zurück in ein normales Leben. Unterstützt hat ihn dabei ein Schulsozialarbeiter aus seiner Jugend, zu dem er den Kontakt nie verloren hatte, auch im Gefängnis nicht.

Den Kontakt zu seinen früheren Bekannten – «Freunde waren das definitiv nicht» – hat er abgebrochen. Er ist in eine neue Gegend gezogen, hat einen Strassenhund aus Sizilien bei sich aufgenommen, spielt regelmässig Fussball in einem Club und hat ein paar wenige neue Freunde gefunden.

Sein Lebensstil wird noch lange bescheiden bleiben, denn nach seiner Gefängnisentlassung muss er 120'000 Franken Schulden abbezahlen. Geldbussen für seine Vergehen, Anwalt- und Gerichtskosten, Schadensersatz aber auch versäumte Krankenkassenprämien. «Ich möchte alles zurückzahlen, auch wenn das mit meinem heutigen Lohn Jahre dauert», sagt er.

Da kann ich meine Erfahrungen nutzen und Jugendlichen in einer ähnlichen Situation helfen.

Ilias Schori

Ist das alles glaubhaft? Wenn man Schori erlebt, will man sagen Ja. Und die Schüler reagieren ehrlich beeindruckt auf ihn, das zeigen die Testimonials auf der Vereinswebseite: «Ich finde seine Geschichte extrem krass», «das Gefängnis ist schlimmer, als ich gedacht habe», «ich habe erkannt, dass Kriminalität nur zu Ungutem führt. Mit hat gefallen, dass Illias so offen über dieses Thema sprach».

Seine Vergangenheit kann Ilias Schori nicht ändern. Aber er weiss, wie seine Zukunft aussehen wird. Er möchte eine Ausbildung zum Schulsozialarbeiter machen. «Da kann ich meine Erfahrungen nutzen und Jugendlichen in einer ähnlichen Situation helfen.» Zumindest hoffe er das.

Fotos: Nik Hunger

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