«Familie ist der Ort, wo man sich selbst sein kann»
Erschienen
29.04.2022

Wie ähnlich sind Sie Ihrer Mutter? Wofür sind Sie ihr dankbar? Vier Frauengenerationen der Familie Kläsi-Wyss geben zum Muttertag Einblick in ihr Leben und verraten, was ihnen Familie bedeutet.
Barbara Kläsi, was unterscheidet Sie als Mutter von Ihrer Mutter Katharina und von Grossmutter Heidi?
Barbara Kläsi: Da ich alleinerziehend bin, bin ich näher bei Avelina. Wir sind darauf angewiesen, dass wir ein gutes Team sind. Zudem gibt es zwischen uns keine Tabuthemen.
Katharina Kläsi-Wyss: Mein Mann und ich führten einen Landwirtschaftsbetrieb und hatten nicht immer so viel Zeit für die Kinder. Dafür waren wir immer daheim; die gemeinsamen Mahlzeiten waren zentral. Ich hoffe, ich war eine gute Mutter.
Barbara Kläsi: Ja, wir gingen sogar ans Meer! Als einzige Bauernfamilie im Dorf.
Heidi Wyss, wie sieht es bei Ihnen aus?
Heidi Wyss: Ich muss fast dasselbe wie meine Tochter sagen. Meine Kinder wuchsen auf einem Grossbetrieb auf und wurden zum Helfen erzogen.
Katharina Kläsi-Wyss: Meine Eltern waren streng. Wenn wir eine schlechte Note hatten, sagte Mutter: «Sag es nicht dem Vater!». Aber sie selbst wurde auch streng erzogen und musste ihre Schwiegermutter beispielsweise noch siezen.
Heidi Wyss: Ja, wir haben die Eltern geehrt, das ist heute anders.

Wir haben die Eltern geehrt, das ist heute anders.
Heidi Wyss, Urgrossmutter (89) Bäuerin, Mutter von vier Kindern, sieben Grosskinder, fünf Urgrosskinder, verwitwet
Inwiefern unterscheiden sich die Töchter der Familie?
Katharina Kläsi-Wyss: Die Pubertät mit Barbara war nicht einfach. Sie hat sich sehr aufgelehnt. Aber wir haben sie immer unterstützt. Heidi Wyss: Also du hattest auch einen Bekannten mit einem Töff, mit dem du eine Tour machen wolltest.
Barbara Kläsi: (lacht) Ach ja? Avelina hat eine schöne Mischung aus Verlässlichkeit, Empathie und Schabernack. Und kann sich durchsetzen. Meine Eltern hätten sich vielleicht gewünscht, ich wäre folgsamer gewesen. Aber ich bin froh, kann meine Tochter auch Nein sagen.
Avelina, wie geht es dir mit so vielen Ahninnen?
Avelina: Viele meiner Freundinnen haben nicht mal mehr ein Grosi. Ich habe ein Riesenglück, dass ich noch ein Grosi und ein Urgrosi habe. Ich weiss, dass die beiden immer da sind und dass ich immer zu ihnen gehen kann.
Könntest du dir vorstellen, auch eines Tages Mutter zu werden?
Avelina: Eigentlich schon. Aber das Leben ist freier ohne Kinder. Wenn man dann mal in den Ausgang geht, sagen die Leute, man sei eine Rabenmutter. Das finde ich schwierig.

Ich bin eine ziemliche Gluggere.
Katharina Kläsi-Wyss, Grossmutter (64) Bäcker/Konditorin, eidgenössisch dipl. Bäuerin, 3 Kinder, 3 Grosskinder, verheiratet
Heidi Wyss, was fanden Sie am Muttersein schwierig?
Heidi Wyss: Manchmal haben meine Kinder in der Schule andere Kinder getroffen, die mehr Möglichkeiten hatten, etwa in die Badi gehen oder an einen Fussballmatch – bei uns hatte die Arbeit immer Vorrang. Das hat mir oft leid getan.
Katharina Kläsi-Wyss: Für mich war das Loslassen am schwierigsten. Ich bin eine ziemliche Gluggere.
Barbara Kläsi: Ich trage die ganze Verantwortung – auch finanziell. Das war nicht immer einfach. Und als Avelina noch klein war, habe ich viele Abende allein zu Hause verbracht. Andererseits konnte ich alles selbst entscheiden.
Gleichen Sie Ihrer Mutter?
Barbara Kläsi: Ich wollte immer total anders werden als meine Mutter. Dann wird man älter und sieht, dass man ja doch ein paar Dinge ähnlich macht. Zum Beispiel wollte ich nie Hausfrau werden. Und dann gibt es Kleinigkeiten, die ich wohl von ihr übernommen habe. Zum Beispiel kann ich ungeputzte Küchentische mit Brösmeli nicht ausstehen! (lacht)
Welche Rolle spielten die Männer in der Familie?
Heidi Wyss: Ich habe meinen Mann sehr gern gehabt, wir hatten ein schönes Leben. Er war bei der Kavallerie, ich rüstete vor dem Haus Bohnen und wartete auf ihn. Und wenn ich nach mehr Haushaltsgeld gefragt habe, habe ich es immer erhalten.
Katharina Kläsi-Wyss: Bei meinem Mann und mir war das schon offener. Ich durfte das Einkaufsgeld selbst verwalten. Mein Mann war dominant, aber meine Stimme war wichtig. Andere Frauen mussten das Kafi vom Haushaltsgeld bezahlen und wussten nicht einmal, was der Mann verdient.
Barbara Kläsi: Wenn ich solche Geschichten höre, halte ich das kaum aus. Es ist viel passiert, aber es muss noch viel passieren. Ich muss im Beruf noch heute besser sein als meine männlichen Kollegen.
Avelina: Meine Mutter und ich gingen an den Frauenstreik, das hat mir sehr gefallen. Ich bin froh, dass ich ein Mädchen bin. Aber manchmal können wir kompliziert sein, zum Beispiel wenn es Streit gibt. Buben finden oft schneller eine Lösung.

Ich wollte immer total anders werden als meine Mutter.
Mutter Barbara Kläsi (40) Inhaberin Wechsel – Wirkung GmbH, Supervisorin & Coach, 1 Kind, ledig, alleinerziehend
Was bedeutet Ihnen der Begriff Familie?
Avelina: Dass man zusammenhält und einander hilft. Für mich gibt es viele Familien. Einmal die mit Ur-grosi, Grosi und Mama. Dann gibt es eine Nachbarsfamilie, die sich hilft, wenn jemand etwas braucht. Meine Klasse ist aber auch wie eine Familie. Und meine Freunde sind es auch.
Barbara Kläsi: Mein Familienbegriff ist ähnlich. Familie ist der Ort, wo man sich selbst sein kann. Und Familie bedeutet Verlässlichkeit.
Katharina Kläsi-Wyss: Für mich ist sie das schönste Geschenk. Meinem Mann wäre es am liebsten, wenn Barbara und Avelina jeden Sonntag kämen. Und er würde alles für die Familie machen.
Heidi Wyss: Mit der Familie ist man immer beschäftigt, ich denke viel an sie und freue mich immer, wenn sie zu Besuch kommt.
Worüber streiten Sie?
Heidi Wyss: Also ich streite doch nicht! Ich befehle nicht gern.
Avelina: Mit Grosi oder Mama stürme ich wegen eines Haustiers oder wenn ich ins Bett muss.
Barbara Kläsi: Manchmal streitest du mit deinen Grosseltern um dieselben Themen wie ich damals, zum Beispiel über den Klimawandel. Das macht mich stolz.
Katharina Kläsi-Wyss: Da staune ich jeweils! Ich hätte mich nie getraut, mit meinen Grosseltern zu streiten. Aber ich finde es gut, dass es Avelina macht.
Welche schönen Eigenschaften haben Sie geerbt?
Katharina Kläsi-Wyss: Ich bin eine enorme Versorgerin, das habe ich von meiner Mutter.
Barbara Kläsi: Das trifft auch auf Avelina und mich zu, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Zu uns können alle kommen, essen und drei Tage bleiben. Wir haben genug für alle. Und Avelina bietet ihren Freundinnen immer Äpfel an, wenn sie zu Besuch kommen.

Ich habe Riesenglück, dass ich noch ein Grosi und ein Urgrosi habe.
Tochter Avelina Kläsi (10) Schülerin, Tierliebhaberin
Was ist die schönste gemeinsame Erinnerung?
Avelina: Die Hochzeitsreise meines Onkels mit Grosi, Mama und der ganzen Familie in Sardinien.
Barbara Kläsi: Gemeiname Reisen mit Avelina, und wenn wir Zeit mit unserer Patchworkfamilie oder mit Freunden verbracht und im Alltag zusammen Zeit zum Backen gehabt oder Konzerte besucht haben.
Heidi Wyss, woran denken Sie gern zurück?
Heidi Wyss: Die vergangenen Weihnachten bei Käthi. Wir haben sogar probiert zu singen!
Barbara Kläsi: Oh ja, und Weihnachten im Bauernhaus früher. Und bei Avelinas Geburt bist du vorbeigekommen, nachdem wir jahrelang keinen Kontakt hatten. Das hat mir enorm viel bedeutet. Seit ich selbst Mutter bin, ist die Verbindung zu meiner Mutter und auch zu meiner Grossmutter gewachsen. Wir hatten mehr Möglichkeiten für einen Austausch, und ich habe mir oft Rat geholt.
Was wünschen Sie Ihren Müttern zum Muttertag?
Avelina: Ich möchte mich bei ihr bedanken, dass sie auf mich schaut. Und ich wünsche ihr, dass sie gesund bleibt.
Barbara Kläsi: Ich bin dankbar, dass wir früher so viele Konflikte hatten, damit wir heute keine mehr haben. Und dafür, dass meine Mutter so verlässlich war. Ich wünsche ihr den Mut, nach vorn zu sehen und für sich einzustehen.
Katharina Kläsi-Wyss: Dass meine Mutter nach dem Tod meines Vaters noch etwas Freude haben kann. Und dass wir im Juni ihren 90. Geburtstag gemeinsam mit der Familie feiern können.
Fotos: Franziska Frutiger
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