Wo LGBTI-Menschen weiterhin benachteiligt sind
Erschienen
22.12.2021

Die «Ehe für alle» ist ein grosser Schritt vorwärts für Lesben und Schwule in der Schweiz. Doch es gibt noch viele andere Baustellen für queere Menschen.
In der Rangliste der Europa-Sektion der ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) liegt die Schweiz derzeit auf Rang 22 von 49. Sie erfüllt 39% aller Forderungen zur kompletten Gleichstellung von LGBTI-Menschen – zum Vergleich: Malta erfüllt 94%, gefolgt von Belgien mit 74%. Frankreich liegt bei 57%, Deutschland 52%, Österreich 50%, Italien 22%. Schlusslicht ist Aserbeidschan mit 2%, hinter der Türkei mit 4%.
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Die «Ehe für alle», die Mitte 2022 in Kraft treten soll, ist bei der Beurteilung der Schweiz aber noch nicht berücksichtigt, ebensowenig die erleichterte Änderung des Geschlechtseintrags ab Januar 2022. Damit dürfte die Schweiz nochmals ein paar Ränge gutmachen und vielleicht etwas näher an Österreich (Rang 17) und Deutschland (Rang 16) rücken.
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Doch es gibt noch viele Bereiche, in denen die LGBTI-Gemeinschaft für Verbesserungen kämpft.
Eine Auswahl:
Für alle
- Hate Crimes verhindern
2020 wurden der LGBT+Helpline 61 Fälle gemeldet, von Beschimpfungen bis zu physischen Angriffen. Da sind nur unwesentlich weniger als im Vorjahr, obwohl wegen Corona mehr Leute zu Hause waren. Auch 2021 gab es viele Vorfälle, allein im September wurden 16 gemeldet. Zwar hat die Zahl der physischen Angriffe gegenüber 2019 leicht abgenommen, aber die Dunkelziffer ist wohl hoch. Laut den LGBTI-Organisationen werden nur knapp 20 Prozent aller Vorfälle der Polizei gemeldet. Besonders stark betroffen scheinen trans Menschen zu sein – für sie gehören feindliche Reaktionen nahezu zum Alltag.
Zurzeit jedoch erfassen nur sechs Kantone sowie die Stadt Zürich Anti-LGBTI-Ereignisse. Eine landesweite Statistik dieser Hate Crimes würde bessere Grundlagen für die Präventionsarbeit ermöglichen. Zudem gibt es politische Bestrebungen, einen nationalen Aktionsplan zur Verminderung von LGBTI-feindlichen Hate Crimes zu erarbeiten.
Online-Links: www.lgbt-helpline.ch, www.parlament.ch - «Konversionstherapien» verbieten
Sogenannte «Konversionstherapien» sind vor allem in freikirchlichen Kreisen populär. Damit sollen meist homo- und bisexuelle Menschen «geheilt», also heterosexuell gemacht werden. Es sind aber auch trans Menschen betroffen. Solche «Umpolungen» jedoch funktionieren erwiesenermassen nicht nur nicht, es gibt auch schlicht keinen Grund dafür. Zudem leiden viele Betroffene solcher «Therapien» jahrelang unter diesen traumatischen Erfahrungen und haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Zwei parlamentarische Initiativen fordern ein nationales Verbot.
Online-Link: www.parlament.ch - Schutz von queeren Asylsuchenden
Queeramnesty Schweiz, eine Untergruppe von Amnesty International, fordert die Anerkennung von LGBTI* als Kollektiv-Fluchtgrund, wenn das Herkunftsland generell sehr LGBTI*-feindlich ist. Heute muss erst eine konkrete Bedrohung – etwa ein bereits stattgefundener Übergriff – vorliegen, was queere Menschen in einigen Ländern in grosse Gefahr bringt. Eine entsprechende Sensibilisierung des Personals beim Bund, bei den Behörden und in den Asylzentren würde zudem stark dazu beitragen, dass sich LGBTI*-Asylsuchende mehr akzeptiert und sicherer fühlen.
Online-Link: www.queeramnesty.ch - Polizei, Lehrpersonen und weitere Berufsgruppen sensibilisieren
Die Haltung und Kompetenz diverser Berufsgruppen können in entscheidenden Momenten einen grossen Unterschied machen. Sei es nun im Umgang mit Diskriminierungen in der Schule oder mit LGBTI-Menschen, die einen Vorfall anzeigen wollen. Sei es im Asyl- oder Gesundheitswesen oder am Gericht.
Für Schwule und bisexuelle Männer
- Blutspende ermöglichen
Aus Sorge über HIV-Infektionen gelten für Männer, die Sex mit Männern haben, strengere Kriterien beim Blutspenden. In der Schweiz dürfen sie seit Juli 2017 Blut spenden, wenn sie zwölf Monate lang keinen Sex mit einem anderen Mann hatten. Zum Vergleich: Heterosexuelle Männer dürfen auch dann Blut spenden, wenn sie Sex hatten. Sie müssen die Partnerin einfach seit mehr als vier Monaten kennen. Insbesondere die Dachorganisation Pink Cross setzt sich dafür ein, dass die Sonderregel für schwule und bisexuelle Männer gestrichen wird und für alle dieselben Regeln gelten.
Online-Link: www.pinkcross.ch

Für Regenbogenfamilien
- Originäre Elternschaft ermöglichen
Es bestehen weiterhin Defizite in der Absicherung der Familie und beim Abstammungsrecht. Familien, die dank Samenspende im Ausland oder mittels privaten Samenspenden im Inland gegründet werden, müssen weiterhin den aufwendigen Weg über die Stiefkindadoption zur rechtlichen Absicherung gehen. Ebenso braucht es Lösungen dafür, dass im Ausland erstellte Geburtsurkunden mit zwei Vätern in der Schweiz gemäss internationalem Recht anerkannt werden. Zudem sollten trans Eltern nach geändertem Registergeschlecht mit der entsprechenden Elternposition bezeichnet werden – also trans Männer als Väter, auch wenn sie das Kind geboren haben, und trans Frauen als Mütter. Denn das ist die gelebte und sichtbare Realität dieser Kinder und Familien und schützt sie vor Diskriminierung. - Elternzeit für alle
Aktuell hat bei Männerpaaren nur einer der beiden Väter Anspruch auf lediglich 2 Wochen Vaterschaftsurlaub bei der Geburt des Kindes. Der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub ist für den zweiten Elternteil bei Frauen- und Männerpaaren gesetzlich nicht verankert. Und auch trans Frauen, die das Kind gezeugt haben, sollten den «Vater»schaftsurlaub erhalten. Im Weiteren braucht es gesetzliche Bestimmungen für Paare, die durch eine Adoption oder Leihmutterschaft im Ausland Eltern werden und ebenfalls Anspruch auf eine 14-wöchige Elternzeit (analog dem Mutterschaftsurlaub) haben müssten. Künftige gesetzliche Regelungen zugunsten von Kindern und Eltern sollten unabhängig von Geschlecht, Zivilstand, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität bestehen.
Online-Link: www.regenbogenfamilien.ch

Für trans, nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen
- Erleichterung der Geschlechtsänderung für alle
Ab 2022 können trans Menschen über 16 Jahre ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister rasch und unbürokratisch ändern. Jüngere brauchen zusätzlich das Einverständnis der Eltern. TGNS (Transgender Network Switzerland) kämpft dafür, dass alle urteilsfähigen Menschen die Änderung selbstständig beantragen können.
Online-Link: www.tgns.ch - Anerkennung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten
Im Personenstandsregister gibt es nur die Kategorien «männlich» und «weiblich». Menschen, die sich mit keiner dieser Kategorien (ganz) identifizieren können, engagieren sich deshalb für die Einführung neuer Möglichkeiten wie sie einige Länder schon kennen, darunter Australien, Neuseeland und Kanada, aber auch einige US-Bundesstaaten. In Deutschland gibt es seit 2018 die Option, sich als «divers» eintragen zu lassen oder den Geschlechtseintrag zu streichen. Bis im Herbst 2020 haben das 394 getan, zudem wurden 19 intergeschlechtliche Neugeborene als «divers» registriert. In der Schweiz erarbeitet der Bundesrat derzeit einen Bericht zu diesem Thema und prüft dabei auch, ob künftig ganz auf einen Geschlechtseintrag verzichtet werden könnte. Zudem liegt beim Bundesgericht die Frage, ob ein in Deutschland gestrichener Geschlechtseintrag von der Schweiz anerkannt wird.
Ein wichtiges Anliegen für nicht-binäre Menschen ist auch die Sichtbarmachung in der Sprache (etwa durch die Verwendung des Gerndersternchens) oder die Verfügbarkeit von Unisex-Infrastrukturen. Der Kanton Luzern erlaubt bereits WCs für alle, in den Kantonen Waadt und Fribourg fordern dies die Parlamente. - Erweiterung des Diskriminierungsschutzes
2020 hat das Volk zugestimmt, Diskriminierungen und Hassreden aufgrund der sexuellen Orientierung unter Strafe zu stellen. Bei dieser Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm wurden jedoch trans und intergeschlechtliche Menschen explizit ausgenommen. Deren Organisationen setzen sich daher weiter für einen umfassenden Schutz gegen Diskriminierung ein.

Für trans Menschen
- Zugang zur guter medizinischer Versorgung
Laut TGNS weigern sich Krankenkassen sehr oft, Behandlungen zur körperlichen Angleichung zu bezahlen. Dies geschehe ohne stichhaltige Gründe und obwohl sie dazu verpflichtet wären. Oder sie veranstalteten eine enorme Bürokratie mit endlosen Nachfragen an Ärztinnen und Ärzte, was die notwendigen Behandlungen über viele Monate verzögere. Trans Organisationen fordern daher, dass alle trans Menschen ohne unnötige Verzögerungen Zugang zu körperlichen Angleichungsmassnahmen erhalten. Besonders wichtig sei der zeitnahe Zugang zur medizinischen Versorgung für Jugendliche in der Pubertät. Denn nur dann könnten unumkehrbare körperliche Veränderungen noch verhindert werden. Viele trans Menschen gehen für eine gute Qualität der medizinischen Versorgung ins Ausland.
Für intergeschlechtliche Menschen
- Verbot von Zwangsoperationen
Noch immer werden Kinder, die mit Variationen von Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen, operiert oder hormonell behandelt, damit sie körperlich dem männlichen oder weiblichen Geschlecht entsprechen. Was später oft zu viel Leid führt. Solche Eingriffe sollen künftig nur nach umfassenden Informationen und mit Einwilligung der betroffenen Person erfolgen dürfen, also erst, wenn die Kinder selbst urteilsfähig sind.
Online-Link: www.inter-action-suisse.ch
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