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Der Liegestuhl im Stall

Text

Sara Satir

Erschienen

21.02.2022

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In der Kolumne «Der andere Blick» erzählt Sara Satir aus ihrem Alltag als Mutter eines behinderten Sohns. Diesmal: Kuhmeditation auf dem Liegestuhl.

Menschen mit Autismus entwickeln häufig ein Spezialinteresse. Sie können sich mit bestimmten Themen und Dingen oft stundenlang beschäftigen. Mein Sohn zeigte schon als Kleinkind eine grosse Leidenschaft für Tiere in Gruppen. Wie die Pinguine im Zoo oder die Ziegen neben dem Spielplatz. Er wollte sie nie streicheln oder ihnen zu nahe kommen, sondern beobachtete sie mit einer Ausdauer, die ich von ihm sonst nicht kannte.

Als er vier Jahre alt war, verbrachten wir Ferien im Appenzellerland, und er sah das erste Mal in seinem Leben Kühe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Fasziniert beobachtete er die Herde und freute sich wie verrückt, wenn eine Kuh aufstand oder mehrere sich bewegten. Schon so oft hatten wir in der Vergangenheit versucht, ihn für die üblichen Spielsachen oder Aktivitäten zu begeistern – ohne Erfolg. Viele Orte für Kinder wie Spielplätze oder Parks gefielen ihm jeweils nur für kurze Zeit. Schnell war er von den vielen Menschen und Geräuschen überfordert und ­reagierte darauf mit langen Schreiattacken.

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Cem beobachtet die Kühe. Foto: Sara Satir

Auf der Weide gab es keine störenden Reize, er sass einfach zufrieden im Gras. Während ich sonst immer darauf achten musste, dass er nicht wegsprang oder sich verletzte, konnten wir bei den Kühen beide entspannen. Wo die Herde war, war auch er. Glücklich, etwas ge­funden zu haben, das ihn glücklich machte, buchten wir für den nächsten Sommer Ferien auf dem Bauernhof. Wir Eltern konnten uns nach den stressigen ersten Jahren Schlimmeres vorstellen, als an der Sonne auf einer Wiese zu sitzen. Leider war das Wetter schlecht und alle Kühe im Stall. Doch das begeisterte meinen Sohn. Alle grossen ­Tiere in einem überschau­baren Raum, wo sie sich gut beobachten lassen, ist für ihn bis heute das Grösste.  

Statt an der Sonne auf der Wiese zu sitzen, standen wir da nun also im dunklen, stinkigen Stall. So hatten wir Eltern uns das nicht vorgestellt, und trotzdem waren wir gerührt über die Freude und Zufriedenheit, die unser Sohn zeigte. Am nächsten Tag stellte ich kurzerhand einen Liegestuhl im Stall auf, um wenigstens etwas Komfort zu haben. Als das der Bauer sah, lachte er laut auf und sagte: «Ich habe mit euch Städtern schon vieles erlebt, aber einen Liegestuhl im Stall, das schiesst den Vogel ab!» 

So gerne würde ich einmal die Tiere durch seine Augen sehen können und sie so wahrnehmen, wie er es tut.

Sara Satir

Mittlerweile haben wir viele Bauernhöfe in der Schweiz kennengelernt. Mit meinem Fachwissen über Kühe könnte ich wohl jeden Bauern beeindrucken. In der Nähe unseres Zuhauses haben wir einen Hof gefunden, auf dem unser Sohn jederzeit herzlich willkommen ist. So gerne würde ich einmal die Tiere durch seine Augen sehen können und sie so wahrnehmen, wie er es tut. Auch wenn ich oft gerne den Liegestuhl an einem See aufstellen würde, habe ich durch ihn die ­Vorzüge einer Kuhmeditation kennengelernt. Sie wirkt tatsächlich entschleunigend.

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Sara Satir (42) wünschte sich früh eine Familie. Ihr erster Sohn Cem (17) kam mit einer Behinderung zur Welt – alles wurde anders als im Traum. Sie arbeitet seit 11 Jahren als Coach in Winterthur und begleitet Menschen in persönlichen Lebenssituationen.

Foto/Bühne: © GettyImage

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