«Wird er so wie Forrest Gump?»
Erschienen
07.01.2022

In der Kolumne «Der andere Blick» erzählt Sara Satir aus ihrem Alltag als Mutter eines behinderten Sohns. Seit zwei Jahren erscheinen ihre Beiträge im Migros Magazin – und neu auch in loser Folge auf Migros-Engagement. Zum Start gibts den Text, mit dem alles seinen Anfang nahm.
Ein Kind mit Behinderung? Darüber machte ich mir während meiner Schwangerschaft keinerlei Gedanken. Ich war 25 Jahre alt, gesund, die Schwangerschaft einfach und die Feindiagnostik unauffällig. Ein behindertes Kind, das betrifft andere, aber sicher nicht mich. Alle Statistiken gaben mir recht.
Aber es kam anders. Mein Sohn entwickelte sich nicht so wie erwartet. Andere Kinder hoben den Kopf, griffen nach Gegenständen, konnten sitzen. Mein Kind tat nichts dergleichen. «Ach, mach dir keine Sorgen, es ist halt ein gemütliches», sagte meine Familie. «Ich wäre froh, wenn mein Kind so ruhig wäre wie deins!», bemerkte eine Mutter auf dem Spielplatz. Doch ich machte mir Sorgen. Die Ärzte diagnostizierten eine globale Entwicklungsverzögerung, was mich hoffen liess. Eine Verzögerung lässt sich doch aufholen, alles eine Frage der Zeit.
Viele Eltern definieren sich über die Entwicklung ihrer Kinder
Die Zeit verstrich, und die Kinder der Freundinnen lernten laufen. Meine Hoffnung schwand, die Sorgen wuchsen. Hatte mein Sohn eine Behinderung? Bis dahin hatte keiner der vielen Ärzte und Ärztinnen das Wort «behindert» in den Mund genommen, ich klammerte mich an die diagnostizierte Entwicklungsverzögerung.

Sara Satir mit Cem zusammen am Wasser, Foto: Sara Satir
Als ich eine Ärztin direkt fragte, wie sie meinen Sohn im Gespräch mit Arztkollegen bezeichnen würde, sagte sie: «Wir sprechen von einem Kind mit einer geistigen Behinderung.» Mit dieser Klarheit hatte ich nicht gerechnet, geschweige mit der Antwort als solche.
«Wird er einmal selbständig leben können?», war meine erste Frage. Die Ärztin verneinte. Wird er so wie Forrest Gump, war die zweite. (Aus heutiger Sicht eine absurde Frage, aber der Typ aus dem gleichnamigen Film war damals der einzige Mensch mit Behinderung, der mir spontan einfiel.) Die Ärztin lächelte und sagte: «Vielleicht, aber wohl ohne die Hollywood-Wundertaten.» Da standen wir nun, ich lachte und weinte gleichzeitig.
Mein Kind hatte also eine geistige Behinderung. Endlich Gewissheit. Und gleichzeitig so viele offene Fragen: Wird es einmal laufen? Sprechen können? Freunde finden? Langsam begann ich zu begreifen. Es fühlte sich an, als würden die anderen Eltern zu einem Klub gehören, der mir die Mitgliedschaft verweigert. Alle Eltern haben Vorstellungen, wie ihr Kind sich entwickeln wird, wir wollen unsere Kinder in die Selbständigkeit begleiten. Viele Eltern definieren sich über die Entwicklung ihrer Kinder, wie früh diese laufen oder sprechen können. Solche Fragen dominieren auf Spielplätzen, ich konnte nicht mithalten, gehörte nicht mehr dazu. Andere Fragen wurden wichtig.
Ein behindertes Kind betraf nicht mehr nur andere. Es betraf nun mich. «Ist es glücklich?» wurde zu meiner wichtigsten Frage, sein Lachen die Antwort auf diese.
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Sara Satir (42) wünschte sich früh eine Familie. Ihr erster Sohn Cem (17) kam mit einer Behinderung zur Welt – alles wurde anders als im Traum. Sie arbeitet seit 11 Jahren als Coach in Winterthur und begleitet Menschen in persönlichen Lebenssituationen.
Foto/Bühne: © MDB Fotostudio
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