«Ich könnte das nicht»
Erschienen
23.03.2022

In der Kolumne «Der andere Blick» erzählt Sara Satir aus ihrem Alltag als Mutter eines behinderten Sohns. Diesmal: «Ich könnte das nicht»
«Was hat er denn?», fragte mich eine Nachbarin und zeigte auf meinen Sohn im Sandkasten, der nicht wie andere Kinder im Sand schaufelte, sondern seine Plastikschaufel wild vor seinem Gesicht hin- und herwedelte und dazu ungewohnte Laute von sich gab. Ich erzählte ihr von seiner Behinderung, den Abklärungen und den Therapien. «Ich könnte das nicht!», sagte sie und schaute mich mitleidvoll an. Es war nicht das erste Mal, dass ich das hörte. Ich denke dann jeweils: Was würdest du tun? Das Kind aussetzen, zur Adoption freigeben, flüchten? Meiner Nachbarin antwortete ich nur: «Das weisst du ja gar nicht!»
Es ist ja nicht so, dass ich mich für die Rolle als Mutter eines Kindes mit einer Behinderung beworben habe. Gerade an diesem Tag war ich so unglaublich müde, weil mein Sohn auch mit vier Jahren keine Nacht durchschlief. Er schrie tagsüber stundenlang, und ich wusste nicht, warum. Es schmerzte mich zu sehen, wie ihn die anderen Kinder auf dem Spielplatz ignorierten und die fremden Mütter ihn anstarrten. Es war einer dieser Tage, an dem ich selbst einen Moment lang dachte: Ich kann das nicht.

Cem füttert eine Ziege. Foto: Sara Satir
Kraft und Zuversicht gibt mir in einer solchen Situation die Liebe zu meinem Sohn. Es ist die bedingungslose Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden können – und umgekehrt. Ohne sie wäre es nicht zu schaffen, sie setzt ungeahnte Kräfte frei und ist der Nährboden für Glück. Zu sehen, wie mein Sohn trotz seiner Einschränkungen das Leben liebt und dies ausstrahlt, macht mich glücklich. Er lebt jede Emotion pur, kennt keine Filter. Will er uns seine Liebe zeigen, umarmt er uns ungestüm und leidenschaftlich. Er kann sich an den kleinsten Dingen erfreuen. Besonders mag er es, Dinge zu ordnen. Mit drei Jahren hat er begonnen, Farbstifte immer wieder neu auf dem Tisch zu verteilen und zu verschieben – nach einer Ordnung, die wohl nur in seinem Kopf Sinn ergibt.
Die Zufriedenheit, die er bei solchen Tätigkeiten ausstrahlt, wirkt ansteckend. Am liebsten würde er nur grüne Kleidung tragen, da dies seine Lieblingsfarbe ist. Ich kenne niemanden sonst, der sich so über einen grünen Pullover freuen kann. Tiere sind seine grösste Leidenschaft, wir verbringen Stunden damit, sie zu beobachten. Besonders Kühe und Pferde sind für ihn das Grösste. Wenn er sie betrachtet, hüpft er auf und ab und wedelt mit den Händen. Seine Verkörperung des Glücks. Anfangs war ich darüber irritiert, mittlerweile hüpfe ich oft mit und staune, wie gut es tut. Solche Erlebnisse sind mein Motor in schwierigen Zeiten. Erst wenn nichts mehr selbstverständlich ist, wird kleines Glück ganz gross.
Kraft und Zuversicht gibt mir in einer solchen Situation die Liebe zu meinem Sohn.
Sara Satir
Häufig ist die Aussage «Ich könnte das nicht!» wohl als Kompliment gedacht, mein Gegenüber will mir Respekt zollen. Doch für mich ist die Aussage absurd. Ich hatte keine Wahl und habe dabei erfahren, dass ich mehr meistern kann, als ich mir jemals zugetraut hätte.
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Sara Satir (42) wünschte sich früh eine Familie. Ihr erster Sohn Cem (17) kam mit einer Behinderung zur Welt – alles wurde anders als im Traum. Sie arbeitet seit 11 Jahren als Coach in Winterthur und begleitet Menschen in persönlichen Lebenssituationen.
Foto/Bühne: © GettyImage
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