Regula Bernhard Hug, 38 Prozent der Eltern haben ihr Kind schon geohrfeigt, gestossen, kalt abgeduscht oder anders körperlich bestraft. Das zeigt eine neue Studie der Universität Fribourg. Was lösen diese Zahlen bei Ihnen aus?
Sie stimmen mich sehr nachdenklich. Vor Corona haben wir einen klaren Trend zu gewaltfreier Erziehung gesehen. Das ist jetzt leider nicht mehr so. Kinder in der Schweiz haben jedoch ein Recht auf Schutz. Wir als Gesellschaft müssen deshalb alles tun, dass gewaltfreie Erziehung «normal» wird.
Zur Person
Regula Bernhard-Hug hat als Expertin unsere Fragen beantwortet. Sie ist die Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz.
Ganz konkret: Ist es gesetzlich heute erlaubt, das eigene Kind zu ohrfeigen?
Eigentlich nicht. Eine Ohrfeige fällt unter «Tätlichkeit» und ist strafbar. Damit es jedoch zur Strafe kommt, müsste das Kind oder jemand aus dem Umfeld die Eltern anzeigen. Das weiss aber niemand und eine Anzeige ist oft auch nicht die richtige Lösung. Denn eine einmalige Ohrfeige kommt oft aus einer Überforderung heraus. Für die Kinder wie auch die Erwachsenen wäre es deshalb sinnvoller, man würde das Gespräch mit den Eltern suchen und ihnen Alternativen aufzuzeigen.
Wer sind die Eltern, die nach wie vor Gewalt anwenden?
Grundsätzlich kann es allen passieren. Zu Gewalt kommt es vor allem in Stresssituation. Für einen Bruchteil der Sekunde verlieren die Eltern die Beherrschung, schlagen zu oder beschimpfen ihr Kind heftig. Die meisten bereuen ihr Handeln im Nachhinein. Nur ein ganz kleiner Teil ist überzeugt, dass Erziehung nur mit Gewalt gelingen kann.
Der Bundesrat hat vor Kurzem ein neues Gesetz zur Vernehmlassung geschickt, das Kinder besser schützen soll. Worum geht es konkret?
Eine Erziehung ohne körperliche Bestrafung und sonstige entwürdigende Massnahmen soll als Norm im Zivilgesetzbuch festgelegt werden. Damit wäre es neu auch untersagt, dass Eltern ihre Kinder demütigen, heftig beschimpfen oder auf andere Weise herabwürdigen.
Eltern dürften also nicht mehr schimpfen?
Doch, es ist sogar wichtig, dass Eltern ihren Kindern zeigen, wenn sie wütend sind. Dabei sind alle Gefühle erlaubt, aber nicht alle Handlungen. Es ist ein Unterschied, ob man einem kleinen Kind sagt, dass man wütend ist, weil es seine Schuhe nicht anziehen will und es in den Socken in den Buggy setzt oder ob man ihm sagt, dass es zu blöd sei, seine Schuhe anzuziehen, und droht, es allein zurückzulassen. Zweiteres löst beim Kind grosse Angst aus und schadet einer gesunden Entwicklung.
Mit welchen Strafen müssten Eltern künftig rechnen?
Das neue Gesetz würde nicht auf Strafe abzielen, sondern auf Unterstützung und Prävention. Gewalt soll verhindert werden, bevor sie passiert.
Wie will man das erreichen?
Die Kantone müssten einerseits neue, niederschwellige Hilfsangebote einrichten, an die sich Eltern und Kinder in Konfliktsituationen wenden können. Auf der anderen Seite wären Fachpersonen wie Hebammen, Lehrkräfte oder Ärztinnen gefragt. Das neue Gesetz würde für sie eine sachliche Grundlage bieten, um mit Eltern ins Gespräch zu kommen, wenn sie Gewalt in der Erziehung vermuten.
Internationaler Kindertag
Der Tag der Kinderrechte findet jedes Jahr am 20. November statt. Die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes wurde an diesem Tag im Jahre 1989 verabschiedet.
Sie sagen, ob Eltern zuschlagen oder nicht, hängt oft von Sekunden ab. Wie soll ein zusätzliches Gesetz ein Kind in diesem Moment schützen?
Es geht um eine Signalwirkung. Wenn wir uns in Kreisen bewegen, in denen alle finden, ab und zu eine Ohrfeige habe noch keinem Kind geschadet, wird Gewalt in der Erziehung normalisiert und Eltern können ihr Handeln auch leichter vor sich selbst rechtfertigen; die anderen machen es ja auch. Das funktioniert jedoch auch umgekehrt: Wenn wir als Gesellschaft uns darauf einigen, dass wir Kinder gewaltfrei erziehen wollen, wird dies das «neue Normal». Eltern suchen dann vielleicht nach anderen Methoden, um Konflikte zu lösen, zum Beispiel, indem sie den Raum kurz verlassen, bevor die Situation eskaliert. Passiert es trotzdem, sind sie sich zudem eher bewusst, dass ihr Verhalten falsch war, entschuldigen sich beim Kind oder suchen gar nach Unterstützung.
Das klingt sehr optimistisch.
In der EU kennen bereits 23 von 27 Ländern solche Gesetze. Von ihnen wissen wir, dass es funktioniert. So wurden etwa in Deutschland nach der Einführung des Gesetzes 30 Prozent weniger Fälle von elterlicher Gewalt erfasst. Dass die Schweiz bisher kein solches Gesetz hat, wird vom UN-Kinderrechtsausschuss immer wieder kritisiert.
Am 20. November ist internationaler Tag der Kinderrechte. Wo steht die Schweiz generell bei der Umsetzung der Kinderrechte?
Wir sind grundsätzlich auf gutem Weg. In der Schweiz geht es vielen Kindern sehr gut. Wenn wir etwa das Recht auf Bildung nehmen, sind wir sogar vorbildlich.
Gibt es noch andere Bereiche, wo Sie Nachholbedarf sehen?
Schutz in der realen und digitalen Welt ist das Fundament aller Rechte. Denn ein Kind, das in seiner Entwicklung gefährdet ist, kann auch von den anderen Rechten weniger Gebrauch machen. Bleiben wir beim Beispiel Bildung: ein Kind, das zu Hause Gewalt erlebt, kann sich in der Schule schlechter konzentrieren und somit weniger von seiner Bildung profitieren. Wir können deshalb nicht genug tun, um Kinder zu schützen.
Foto/Stage: Getty Images
Wie setzt du dich persönlich für den Schutz von Kindern ein? Sag es uns in den Kommentaren!
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