Nächstes Jahr werde ich Dreissig. Eine grosse Zahl – und je näher ich ihr komme, desto öfters werde ich gefragt: «Wann ist es bei dir soweit?» Dass ich Kinder will, scheint dabei gegeben. Kein Kopfentscheid, ein Naturgesetz, verfügt von meinem hormonellen Zyklus als Frau. Aber was, wenn ich mich eines Tages dagegen entscheide?
Nadine Gloor hat die Dreissig schon überwunden – und mit ihr die Kinderfrage. Es sei ein langer Prozess gewesen, erzählt die 34-Jährige bei einem Himbeer-Chrüter-Hoftee auf der Jucker Farm in Seegräben ZH. Neben ihr sitzt ihr Mann Daniel Hürlimann, hinter ihm sonnen sich am Abhang saftgrüne Rebstöcke, unterhalb glitzert der Pfäffikersee in der Nachmittagssonne.
Das kommt schon noch
Die beiden sind seit 16 Jahren ein Paar, seit sechs ein Ehepaar. «Eine Familie», wie Daniel Hürlimann sagt und sich mit den Fingern durch den Bart streicht. Der 38-Jährige sitzt aufrecht, spricht zögerlich. Er ist noch nicht sicher, was er alles erzählen möchte.
Nadine Gloor dagegen, die Haare zu einem lockeren Dutt gebunden, lehnt sich entspannt auf ihrem Holzstuhl zurück. Sie spricht nicht das erste Mal öffentlich, seit Januar teilt sie ihre Geschichte auf ihrem Blog kinderfrei-leben.ch. Ihre Worte fliessen wie von selbst.
Nadine Gloor: «Seit ich aus der Kanti raus bin, hatte ich das Gefühl, bis Dreissig muss ich alles erledigt haben und dann werde ich Mami. Das war wie eine Deadline. Als ich dann Dreissig wurde, und alle um mich herum Kinder bekamen, hat mich das enorm unter Druck gesetzt.»
Daniel Hürlimann: «Ich glaube, ich habe diesen Druck weniger gespürt. Ausserdem sagen einem ja auch immer alle: Das kommt dann schon noch.»
Nadine Gloor: «Das habe ich auch immer gedacht. Ich dachte, irgendwann ist der Kinderwunsch dann einfach da.»
Der Kinderwunsch. Auch ich merke, dass ich mich insgeheim auf ihn verlasse. Quasi meine Entscheidung an ihn abtrete. Wenn die Zeit reif ist, wird er sich mir dann schon offenbaren, denke ich mir. Doch was, wenn nicht?
An kaum einem Ort ist der Kinderwunsch wohl so präsent wie auf dem ozeanblauen Schalenstuhl in Brigitte Leeners Sprechzimmer. Sie leitet die Klinik für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich und begleitet Paare mit unerfülltem Kinderwunsch.
Aber nicht nur, erklärt sie von ihrem Bürostuhl aus, zwischen uns ein grosser Holztisch. Professorin Leeners trägt einen weissen Kittel, eine rote Brille und neben ihrem Titel als Fachärztin auch einen als Psychotherapeutin.
Sie berät Patientinnen und Patienten auch bei Verhütungsfragen oder wenn sie sich in der Kinderfrage unsicher sind. Auch Sterilisationen begleitet sie. «Das machen wir aber nur, wenn die Familienplanung schon abgeschlossen ist.» Bei sehr jungen Frauen setze man dagegen eher auf alternative Verhütungsmethoden. «Nur für den Fall», sagt sie.
Wie ein Damoklesschwert
Für den Fall, dass die Hormone einschlagen? «Der Kinderwunsch ist nicht biologisch oder hormonell erklärbar. Er entsteht eher im Kopf oder als Bauchgefühl.» Ein Teil sei sicher familiär oder kulturell bedingt.
Wer in einer grossen Familie aufwachse, in der Kinder einen hohen Stellenwert hätten, neige wohl eher zum Kinderkriegen. Es gebe aber auch einen Teil, der von innen komme und sich nicht erklären lasse. «Wie jede und jeder von uns eine andere Haarfarbe hat, unterschiedlich gross ist oder andere Hobbies hat, so haben auch Kinder bei allen von uns eine andere Bedeutung.»
So gebe es Frauen, die Anfang Zwanzig schon kaum erwarten könnten, endlich Mutter zu werden. Bei anderen dagegen seien Kinder nie Thema. «Und dann gibt es Leute wie Sie, die Ambivalenten. Leute, die sagen: Ich warte mal ab.» Ertappt. «Auch das ist in Ordnung», fährt sie schnell fort, «ich rate aber, wenn es gegen die 35 zugeht, sich genau zu überlegen, wo man steht.» Denn sie habe auch schon Frauen erlebt, die ihr fruchtbares Fenster verpasst und dies bereut hätten.
Nadine Gloor: «Die intensivste Zeit was so etwa mit 32. Auf der einen Seite gab es diese tickende Uhr, von der immer alle reden. Auf der anderen wurde mir klar, wie viel von meiner Freiheit, meinem Leben und meiner Person ich aufgeben müsste, wenn ich jetzt Mutter würde. Das hat mir die Luft abgeschnürt.»
Daniel Hürlimann: «Ich habe ihr dann gesagt, wir müssen das nicht gleich entscheiden. Wir haben dann das Thema immer wieder besprochen, es aber auch bewusst vertagt. Es sollte unseren Alltag nicht zu sehr vereinnahmen.»
Nadine Gloor: «Nach etwa einem Jahr habe ich es nicht mehr ausgehalten. Die Frage schwebte über mir wie ein Damoklesschwert.»
91 Prozent
der unter 30-Jährigen in der Schweiz wünschen sich mindestens ein Kind, wie eine Statistik des Bundes von 2019 zeigt.
9 Prozent
wollen dagegen ohne Kinder bleiben. Was ihre Gründe sind, sagt die Statistik nicht.
Mehr Zeit für Zweisamkeit
Eine einzige Studie führt nach Deutschland. «Mich hat selbst überrascht, dass bisher niemand in diesem Feld geforscht hat», sagt Professorin Claudia Rahnfeld von der Dualen Hochschule Gera-Eisenach. In einer Studie hat sie zusammen mit Annkatrin Heuschkel über 1’100 Frauen befragt, die sich bewusst gegen Kinder entschieden haben.
Mehr als die Hälfte der befragten Frauen hat ihren Entscheid bereits unter 25 Jahren gefällt. Bei über 80 Prozent war der Grund, dass sie mehr Freizeit wollten und damit verbunden: sich selbst verwirklichen. Das heisst aber nicht, dass diese Frauen nur auf Karriere aus waren.
Die meisten gaben an, mehr Zeit für Familie und Freunde zu wollen – und ihre Partnerschaft. Auch das habe sie überrascht, so Rahnfeld. «Während man Frauen oft sagt, mit dem richtigen Partner willst du dann bestimmt Kinder, konnten wir das Gegenteil beweisen: Gerade eine glückliche Partnerschaft kann dazu führen, dass Frauen sich gegen Kinder entscheiden», sagt sie.
Nadine Gloor: «Ich weiss noch genau, es war ein Sommerabend, kurz vor der Dämmerung. Wir waren am Pfäffikersee spazieren und haben zwischen dem Schilf darüber geredet, wie unser Leben ohne Kinder aussehen würde. All die Reisen, die wir machen würden. Die viele Zeit, die wir gemeinsam hätten. Dann habe ich angehalten und gesagt: Lass es uns jetzt aussprechen.»
Daniel Hürlimann: «Das war für mich ein kritischer Moment. Meine grösste Sorge war immer, dass wir nicht derselben Meinung sind. Was würde dann aus unserer Beziehung? Doch wir hatten Glück.»
Nadine Gloor: «Für mich war das wie ein Befreiungsschlag. Mein Leben hatte auf einmal wieder viel mehr Abzweigungen.»
Ich dachte immer, ich werde irgendwann Mami. Dann habe ich mich anders entschieden.
Nadine Gloor
Wie schwer der Entscheid gerade für Frauen sein kann, weiss Autorin Jeanine Donzé. Sie begleitet Frauen und Paare beim Kinderwunsch und führt die Gruppe «FrauSein ohne Kind Bern». Mutterschaft werde heute stark mit weiblicher Identität verbunden, erklärt sie und spricht dabei auch aus eigener Erfahrung: «Ich konnte mir immer vorstellen, ohne Kinder zu leben. Als dann klar wurde, dass es nicht möglich war, musste ich trotzdem bewusst loslassen.»
Nadine Gloor: «Ich dachte immer, ich werde irgendwann Mami. Dann habe ich mich anders entschieden. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Gleichzeitig war es für mich ein freudiger Moment, da wir uns endlich zu einem Nein durchgerungen hatten.»
Daniel Hürlimann: «Leider haben nicht alle unsere Freude geteilt.»
Nadine Gloor: «Wir haben alle möglichen Reaktionen erhalten. Einige haben es einfach zur Kenntnis genommen, andere haben gesagt: ,Habt ihr euch das gut überlegt?’ oder ,Mutter zu werden ist doch das Schönste für eine Frau’ bis hin zu ,das werdet ihr im Alter bereuen’.»
Alles Sätze, die ich auch schon gehört habe, wenn ich Zweifel geäussert habe, ob ich je Mutter werden möchte.

Buchtipp
«Was wir in die Welt bringen. Frauen zwischen ,kinderlos’ und ,kinderfrei’» von Jeannine Donzé, Verlag Zytglogge, 2021, erhältlich bei exlibris.ch für Fr. 22.40.
Wenn nichts fehlt
«Es gibt immer noch die Norm und die Abweichung», sagt Jeanine Donzé. Dabei gebe es auch Frauen, die es bereuten, Kinder bekommen zu haben, wie die Studie «Regretting Motherhood» aus Israel zeige. Doch nie würde man eine Mutter fragen: Hast du dir das gut überlegt? Meinst du nicht, du bereust es eines Tages? Dem gegenüber stehen 70 Prozent der Frauen aus der Studie von Rahnfeld: Sie alle gaben an, dass sie sich häufig rechtfertigen müssen, weil sie keine Kinder wollen.
Wer bis hierhin gelesen hat, dem ist vielleicht aufgefallen, dass ich nie von «kinderlos» gesprochen habe. Das hat seinen Grund: Kinderlos suggeriert, dass einem etwas fehlt. Bei Nadine Gloor und Daniel Hürlimann ist das definitiv nicht der Fall. Ob das auch für mich gilt, wird sich noch zeigen.
Foto/Stage: © Anne Gabriel Jürgens
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