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Forensic Nurse: Pflegefachfrau wird Detektivin

Text

Manuela Enggist 

Erschienen

27.05.2022

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Valeria Kägi ist Pflegefachfrau und Forensic Nurse. Sie sichert am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Zürich Spuren bei Opfern häuslicher Gewalt und anderer Delikte. Die Ablehnung war zunächst gross – vor allem aus den eigenen Reihen.

Spuren sichern – ein Begriff, den Pflegefachfrau Valeria Kägi lange Zeit nur aus Krimiserien kannte. Bis eines Tages die Polizei bei ihr auf der Chirurgischen Abteilung des Kantonsspitals Zürich stand und fragte, ob sie von einer bestimmen Patientin Blut und Urin aufbewahrt habe. Ob sie Fotos gemacht hätte. Und ob die Kleidung der Frau noch da sei. Kägi musste alles verneinen. Später habe sie erfahren, dass besagte Patientin Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. «Ich bin mir in meinem Leben noch nie so blöd vorgekommen.»

Fünf Jahre später sitzt Valeria Kägi in einem Sitzungszimmer am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich. Draussen spazieren Studentinnen und Studenten durch den Irchelpark, geniessen die Frühlingssonne. Die 37-jährige Pflegefachfrau ist heute nicht mehr «nur» Pflegefachfrau, sondern auch Forensic Nurse. Und als Erste in der Schweiz an einem Rechtsmedizinischen Institut angestellt. Der Weg dahin war lang und beschwerlich. Es flossen auch mal Tränen. Kägi setzt sich auf dem Stuhl zurecht, spricht nun lauter und schneller. 

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Valeria Kägi ist im Vorstand der Swiss Association Forensic Nursing, um ihr Berufsbild bekannter zu machen.

Am Anfang kamen Fragen wie ‹Was willst du denn hier?›

Valeria Kägi

«Ich wusste, dass ich in diesem Moment nicht alles für meine Patientin getan hatte. Das nagte an mir», sagt sie über das Zusammentreffen mit der Polizei, dass ihr damals den Anstoss gab, sich um eine Weiterbildung zu bemühen. Kägi begann, zu recherchieren. An einer Tagung hörte sie dann die Worte Forensic Nurse. Es habe sofort klick gemacht. 2017 war sie eine von 17 Pflegefachpersonen, die die einjährige Weiterbildung an der Universität Zürich in Forensic Nursing besuchten und sich unter anderem in Themenbereichen wie Forensischer Spurensuche, Haaranalytik, Notfallpsychologie und Sexualdelikte weiterbilden liessen. Bei vielen Absolventinnen und Absolventen sei kurz vor dem Abschluss die Frage aufgekommen, wie es nun weitergehe. «Wir wussten, dass wir zu einer ganz neuen Berufsgattung gehören, und hatten keine Ahnung, wie und wo wir zum Einsatz kommen können», sagt Kägi.

Ihr Weg führte ans Rechtsmedizinische Institut der Universität Zürich. Dort hatte Professor Michael Thali, der die Weiterbildung initiiert hatte, 2013 einen Pilotkurs zum Thema «Forensic Nursing» angeboten. «Die Krankenpflegerinnen haben uns die Tür eingerannt», sagt Thali, während er durch die Gänge des Instituts eilt. «Der Rechtsmediziner war der einzige Arzt, der nie eine Pflegefachperson zur Seite hatte.» Was ein Fehler sei. «Wir haben viele Fälle, bei denen die betroffenen Personen noch am Leben sind. Da habe ich immer wieder gemerkt, dass es gut wäre, wenn da noch jemand zusätzlicher dabei ist, die mitdenkt, mithilft und sich um die geschädigte Person kümmert.»

Ärzte dominierten Forensik

Also stellte Institutsdirektor Thali Ende 2017 Valeria Kägi als Forensic Nurse ein. Er habe gedacht, er müsse mit gutem Beispiel vorangehen. Und gewusst, dass seine Kollegen von der Idee nicht begeistert sein würden. «Die Rechtsmedizin war lange Zeit ein ärztlich dominierter Fachbereich, in dem es kaum Berührungspunkte mit Pflegefachpersonen gab.» 

Valeria Kägi spürte zu Beginn viel Ablehnung. «Es kamen Fragen wie ‹Was willst du denn hier?›, obwohl wir meinen Aufgabenbereich definiert hatten», erinnert sie sich. Die Forensic Nurse ist Teil des Teams des Rechtsmedizinischen Instituts. Sie muss mit ausrücken, wenn ein Arzt oder eine Ärztin von der Polizei oder Staatsanwaltschaft aufgeboten wird. Es kann sich um Sexualdelikte handeln, um Gewaltverbrechen oder um Kindesmissbrauch.

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Mit dem «Rape-Kit» können bei Opfern von Vergewaltigungen Spuren gesichert werden.

Gerade sonntags und montags würden sich die Fälle von Sexualdelikten häufen. Diese Untersuchungen finden ausschliesslich in einem Spital statt. Wenn es um Fälle von interpersoneller Gewalt geht und es der Zustand der geschädigten Person erlaubt, können die Untersuchungen auch in einem speziell dafür vorgesehenen Raum im Polizeigebäude stattfinden. Dabei werden die Geschädigten, in den meisten Fällen Frauen, auf Spuren und Verletzungen untersucht. Kägi assistiert den jeweiligen Ärzten und Ärztinnen mit dem sogenannten Rape-Kit – einer Art Erste-Hilfe-Koffer für Opfer von Vergewaltigungen, mit dem beispielsweise ein Vaginalabstrich vorgenommen wird, um mögliche Spermaspuren zu sichern.

Wenige Monate nach ihrem Start am Institut habe ein Rechtsmediziner zu ihr gesagt: «Wenn du in diesem Haifischbecken überleben willst, musst du dich unentbehrlich machen.» Für ihn sei es zum Beispiel wichtig, dass er jemanden vor Ort habe, der gestochen scharfe Fotos von Verletzungen machen kann. «Also habe ich mir vorgenommen, die beste Fotografin am Institut zu werden. Ich habe mir Bücher zum Thema ausgeliehen und gelernt – heute zähle ich mich zum oberen Drittel.» Sie laufe nicht mehr ohne ihre Pocketkamera herum, sagt Kägi, und klopft auf ihre Brusttasche. «Die habe ich immer hier drin. Ich will nicht miterleben, dass ein Bild, das ich gemacht habe, vor Gericht als nicht aussagekräftig genug angesehen wird, nur weil ich es nicht mit meiner eigenen Kamera gemacht habe.»

Mehr Fingerspitzengefühl

Mit der Zeit hat Kägi auch realisiert, dass sie mit ihrem Know-how und Können aus ihrer Zeit im Krankenhaus helfen kann. «Als Pflegefachfrau war ich den Patienten immer am nächsten. Wenn ich einer Geschädigten ein Glas Wasser anbiete, dann gibt ihr das einen sicheren Rahmen. So ist sie vielleicht imstande, der Polizei mehr Details über den Tathergang zu erzählen.» Oft hätten Forensic Nurses mehr Fingerspitzengefühl. Das kann gerade bei schwierigen Fragen helfen.

Die Fälle, die Kägi betreut, sind alles vermutete Taten. Sie sind bei der Polizei zwar angezeigt worden, was die Situation jedoch nicht einfacher mache. Es verunsichere die Opfer, wenn sie nach einer Anzeige noch beweisen müssen, dass tatsächlich etwas passiert ist. «Man muss einer Frau, die vergewaltigt worden ist, erklären, warum wir fragen, ob sie sich gewehrt hat.» Damit wolle man ihr nicht unterstellen, dass sie schwach sei, sondern in Erfahrung bringen, wo man nach möglichen Abwehrspuren suchen muss. 

Heute ist Kägi eine gestandene Berufsfrau. Sie ist im Vorstand der Swiss Association Forensic Nursing, um das Berufsbild bekannter zu machen. Sie ist vernetzt, kennt alle anderen Forensic Nurses im In- und auch viele im Ausland. In der Schweiz sind es schätzungsweise rund 15 Menschen, die effektiv in diesem Beruf arbeiten – mehrheitlich in Krankenhäusern. Doch viele der mittlerweile knapp 100 Pflegefachpersonen, die die Weiterbildung an der Universität Zürich absolviert haben, können sich nicht durchsetzen. «In einem sowieso schon hektischen Pflegealltag fehlt es oft an Zeit und Geld, um einen neuen Beruf zu etablieren.» Wenn jemand als Forensic Nurse in einem Krankenhaus arbeitet, müsste eine zusätzliche Pflegefachperson eingestellt werden. «Und das passiert sehr selten.»

Den Fachbereich würde Valeria Kägi nicht mehr wechseln wollen. Zu sehr sei ihr das Rechtswesen ans Herz gewachsen, sagt sie, die konsequent nicht mehr von Patienten, sondern von Geschädigten spricht, wenn es um ihre Arbeit am Institut geht. Sie fühlt sich mittlerweile «akzeptierter». Es sei eingetroffen, was ihr Chef, Professor Thali, damals prophezeit habe: dass die Akzeptanz mit der Zeit schon kommen würde.

Die Geschichte des Forensic Nursing

Der Ursprung liegt in den USA. Virginia Lynch gilt als Pionierin des Forensic Nursing. Dank ihr ist diese Berufsgattung dort strukturell etabliert. Die Gewalt gegen Frauen und Kinder hatten Virigna Lynch im Texas der 70er-Jahre als Krankenschwester schwer zugesetzt.

Sie absolvierte eine Ausbildung zum «Medical Investor». Seit Anfang der 90er-Jahre bildet sie Pflegefachangestellte im Forensic Nursing aus. Auch in Grossbritannien und Neuseeland hat sich die Forensic Nurse etabliert, dort sind es ebenfalls eigenständige Berufe.

Fotos: ©Mali Lazell

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