Weiblich, männlich oder divers?
Erschienen
27.05.2022

Der Bundesrat arbeitet derzeit an einem Bericht über die Einführung eines amtlichen dritten Geschlechts. In einigen anderen Ländern gibt es dies bereits. Was hat es damit auf sich?
Gibt es Menschen, die weder männlich noch weiblich sind?
Ja, die Natur ist vielfältig. Im Schnitt werden in der Schweiz pro Jahr rund 40 Kinder geboren, deren Geschlecht nicht eindeutig bestimmt werden kann – sie sind intergeschlechtlich. Oft wurde ihnen dennoch ein Geschlecht zugewiesen, teils gar mit operativen Eingriffen. Dies führte später bei einigen zu viel Leid. Laut US-Studien stellt ein bis zwei Prozent der Bevölkerung das Geschlecht in Frage, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – dies betrifft intergeschlechtliche und trans Menschen. Hinzu kommen all jene, die sich auch als Erwachsene keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Sie sehen ihre Geschlechtsidentität als fluid und bezeichnen sich als non-binär.
Wieso denkt der Bundesrat über ein amtliches drittes Geschlecht nach?
Er tut dies aufgrund eines Postulats der grünen Basler Nationalrätin Sibel Arslan. Laut dem Justizdepartement sollte der Bericht noch in der ersten Jahreshälfte erscheinen. Hintergrund des Postulats ist, dass einige andere Staaten ein solches unbestimmtes Geschlecht bereits kennen. «Die Schweiz steht diesbezüglich unter Druck», sagt Thomas Geiser (69), emeritierter Rechtsprofessor der Universität St. Gallen, der sich mit den juristischen Aspekten eines dritten Geschlechts beschäftigt hat. «Das Bundesgericht hat entschieden, dass ausländische Zivilstandsurkunden mit einem dritten Geschlecht anerkannt werden müssen. Wir müssen also was machen.»
Wie wirkt sich das bisherige Fehlen eines amtlichen dritten Geschlechts auf die Betroffenen aus?
Studien zeigen, dass non-binäre Personen im Schnitt eine schlechtere psychische Gesundheit haben. Ihre Geschlechtsidentität als wichtiger Teil der Persönlichkeit wird nicht nur nicht anerkannt, sondern bleibt ungeschützt. «Ein entsprechender Geschlechtseintrag täte gut und würde Diskriminierung vermindern», sagt Lovis, selbst non-binär, im Gespräch mit dem Migros-Magazin. Und Chri Hübscher schreibt auf der Website nonbinary.ch, der Schweizer Staat sage derzeit zu non-binären Menschen: «Ihr existiert für uns nicht.» Es sei höchste Zeit, dass sich dies ändere.

Im Pass der USA gibt es seit Kurzem die Möglichkeit, beim Geschlecht ein X einzutragen. Foto: Getty Images
Welche Länder haben bereits eine dritte Option eingeführt?
Rund 20 Nationen anerkennen ein unbestimmtes Geschlecht rechtlich und ermöglichen einen entsprechenden Eintrag im Pass, etwa als «X», «divers» oder durch eine Leerlassung. Dazu gehören die USA, Deutschland, Österreich, Spanien, Kanada, Australien, aber auch Indien, Kolumbien, Kenia oder Pakistan – es gelten allerdings überall ein wenig andere Regeln.
Was spricht für ein amtliches drittes Geschlecht?
- Die heutige Regelung ist unbefriedigend. Das sagt Andrea Büchler (53), Präsidentin der Nationalen Ethikkommission, die im Auftrag des Bundesamts für Justiz eine Stellungnahme dazu verfasst hat: «Die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten wird heute ungenügend berücksichtigt. Dies führt zu Einschränkungen bei der Selbstbestimmung und beim Schutz vor Diskriminierung.» Die Ethikkommission empfiehlt zuerst die Einführung einer oder mehrerer neuer Geschlechtskategorien, dann die Prüfung der allgemeinen Abschaffung des Geschlechtseintrags. «Dies jedoch bedingt eine ausreichende gesellschaftliche Akzeptanz, die erst noch geschaffen werden müsste», sagt Büchler.
- Es hilft den Betroffenen. Dies sagt Roland Peterhans (58), Präsident des Schweizerischen Verbands der Zivilstandsämter. Er hat erlebt, wie glücklich die Menschen aus dem Amt rauslaufen, welche seit Anfang Jahr die Möglichkeit nutzen, ihr Geschlecht im Personenstandsregister unkompliziert zu ändern: «Man sollte das ausweiten auf ein drittes Geschlecht, weil es eben auch einige Menschen gibt, die sich weder dem einen noch dem anderen zuordnen. Ihnen wäre enorm geholfen, wenn sie auch rechtlich sein dürfen, wer sie sind.» Zwar betreffe es nur wenige. »Doch dem Rest der Bevölkerung tut es nicht weh, während es den Betroffenen das Leben erleichtert.»
Was spricht gegen Veränderungen beim amtlichen Geschlecht?
- Wir haben es schon immer so gemacht, wie es jetzt ist. Zumindest scheine dies das zentrale Argument, schreibt Chri Hübscher auf nonbinary.ch «Es ist für viele etwas ganz Neues und Ungewohntes, das überhaupt in Frage zu stellen», sagt Jurist Thomas Geiser.
- Es gibt Leute, die fundamental der Meinung sind, es gebe nur Mann und Frau und eine bestimmte Rollenverteilung. Dazu gehören laut der Berner Geschlechterforscherin Kathrin Zehnder (45) neben Menschen mit patriarchal-traditionellem Rollenverständnis auch bestimmte feministische Strömungen: «Sie fürchten, man nehme der Emanzipationsbewegung die Existenzberechtigung.»
- «Die Frage ist doch immer: Was ist der Nutzen?» sagt Daniel Frischknecht (58), Präsident der EDU Schweiz. «Entscheidend ist für mich das Kindswohl – und dafür sehe ich keine Vorteile. Ein weiteres Geschlecht führt nur zu mehr Kategorisierung und Stigmatisierung.» Man schaue damit nicht mehr für die grosse Menge des Volks, sondern für die Abweichung, was eine weitere Individualisierung brächte und «nur zu noch mehr Beliebigkeit und Verwirrung» führe.
Frischknecht räumt jedoch ein, dass bei intergeschlechtlichen Kindern Fehler gemacht wurden. «Sie sollten geschützt und sozial und medizinisch begleitet werden, bis sie alt genug sind, sich selbst für ein Geschlecht zu entscheiden.» Und auch für für Non-binäre und Ausländer mit einem dritten Geschlecht im Pass hat er eine Lösung: «Sie kreuzen auf dem Formular einfach beides an, Mann und Frau.»
Wie lebt es sich als intergeschlechtliche Person? Drei Betroffene erzählen. (Video: WDR Doku)
Könnte man den amtlichen Geschlechtseintrag gleich ganz abschaffen?
Dem Vernehmen nach könnte dies auch im Bericht des Bundesrats ein Thema sein.
Argumente dafür:
- «Der Gewinn des Geschlechtseintrags ist nicht einsichtig, es schränkt uns in unserem Sein ein und schafft Potenzial für Diskriminierung», sagt Geschlechterforscherin Kathrin Zehnder vom Prozessbüro in Bern. «In vielen Bereichen ist es schlicht nicht nötig. Und da, wo es heute noch eine Bedeutung hat – beim Militär oder der AHV –, gäbe es Lösungen. Letztlich ist es eine Anpassung an eine kulturelle Entwicklung. Die Schweiz braucht ja meist etwas länger, aber am Ende wird zumindest ein drittes Geschlecht kommen.»
- Auch der Jurist Thomas Geiser plädiert für eine komplette Abschaffung: «Früher hat man noch die Augen- und Haarfarbe amtlich festgehalten, das macht man längst nicht mehr. Auch den Geschlechtseintrag braucht es nicht. Klar würde das einige weitere bürokratische Anpassungen erfordern, aber die muss man ja nicht alle auf einmal machen.» Die Gleichstellung von Mann und Frau habe zu einem ähnlichen Aufwand geführt, dafür seien danach dann sämtliche Formulare einfacher.
Argumente dagegen
- EDU-Präsident Daniel Frischknecht sieht zwar die Vorteile einer Vereinfachung, ist dennoch skeptisch: «Es würde andere Probleme nach sich ziehen, etwa bei der dadurch erschwerten Polizeiermittlung. Ob eine Abschaffung wirklich einen Mehrwert bringt, bezweifle ich.»
- «Ich denke nicht, dass wir den Geschlechtseintrag komplett abschaffen sollten», sagt Roland Peterhans, Präsident des Verbands der Zivilstandsämter. «Unsere Gesellschaft tickt schon noch sehr danach. Aber vielleicht könnte man es bei deutlich weniger Orten offiziell angeben. Wenn ich ein Halbtax kaufe, ist es doch egal, ob ich Mann, Frau oder divers bin.»
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