Die Stimme der Frauen

Am 7. Februar 1971 erlebt die Schweizer Gesellschaft eine Revolution: Endlich können Frauen auf Bundesebene wählen und gewählt werden. Fünfzig Jahre später wird weiter gekämpft, damit Gleichberechtigung eines Tages nicht länger ein Kampf, sondern eine Errungenschaft ist.
In diesem Jahr feiern die Schweizerinnen fünfzig Jahre Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene. Zeit, Bilanz über diese wichtige Errungenschaft zu ziehen und einen Blick auf die aktuelle Situation zu werfen. «Obwohl dieses Recht ein paar Veränderungen ermöglicht hat, gibt es in puncto Gleichberechtigung noch viel zu tun», so Pauline Milani, Lehrende an der Universität Freiburg mit Fachgebiet Frauen- und Geschlechtergeschichte. «Ich freue mich sehr, dass das Stimm- und Wahlrecht der Frauen gefeiert wird, aber man darf nicht vergessen, dass Frauen bis zur Reform des Eherechts, die erst 1985 erfolgt ist, bei einer Heirat den Grossteil ihrer Rechte verloren haben. Es wurde also eine Menge erreicht, aber gleichzeitig hat sich beispielsweise bei der Lohndiskriminierung in fünfzehn oder zwanzig Jahren wenig getan», betont sie und weist gleichzeitig darauf hin, wie wichtig es ist, «der jungen Generation zu zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen». «Ich mache meine Studierenden gerne darauf aufmerksam, dass den Frauen das Stimmrecht nicht gewährt wurde, weil die Männer nett waren. Um es zu bekommen, waren mehr als siebzig Jahre hartnäckiger Kampf nötig. Wir haben also keine Wahl: Wir müssen jetzt und auch in Zukunft immer kämpfen.»
Die Expertin stellt ausserdem einen «seit 2010 wieder erstarkten Feminismus» fest, der auf zwei Arten zum Ausdruck kommt. Zunächst «fügt er sich in eine Dynamik ein, die weit über die Schweizer Grenzen hinausgeht. So treten in der ganzen Welt Massenbewegungen in Erscheinung, beispielsweise ‹Ni una menos› in Mexiko 2015, äusserst wichtige Bewegungen in Indien 2012 nach der grausamen Vergewaltigung einer Studentin, die Women’s Marches in den USA, als Trump gewählt wurde, und natürlich die MeToo-Bewegung im Herbst 2017.» Übrigens ist all diesen Bewegungen etwas gemeinsam: «Früher kämpfte man, um Gesetze zu ändern, heute hingegen für die körperliche Unversehrtheit der Frauen», erklärt sie. Der Feminismus der 70er Jahre hatte bereits einen echten erkenntnistheoretischen Bruch erzeugt, mit den Debatten über Verhütung und Abtreibung. Aber die Frage der Intimsphäre war ein bisschen ausgespart worden. Während nun eine Rückkehr zur Frage des Körpers an sich erfolgt: Die Opfer von Vergewaltigungen, sexueller Belästigung, Gewalt in der Ehe sind überwiegend Frauen. Sie sind es auch, die einen Grossteil der unbezahlten Arbeit übernehmen und Lohndiskriminierung erfahren müssen. Plötzlich kehrt die Reflexion zu dem zurück, was wir mit diesem weiblichen Körper gemacht haben, um ihn nicht zum Ort der patriarchalischen Herrschaft zu machen.»
Die Rolle der sozialen Netzwerke
Um ihre Botschaften zu vermitteln, profitieren die Frauenrechtlerinnen heute von einem besonders effizienten Tool: den sozialen Netzwerken. «Es hat immer einen Informationsfluss gegeben, aber das hat den Mobilisierungen einen globaleren Aspekt verliehen», merkt die Historikerin an. Die sozialen Netzwerke haben auch ein Hinterfragen des Stellenwerts der Sprache ermöglicht und Tatsachen hörbar gemacht, die bereits da waren, auf die aber vorher niemand gehört hat.» Pauline Milani mahnt jedoch zur Vorsicht: Die Frauenbewegung ist heute zwar wichtig und dynamisch, «andererseits sind die antifeministischen Reaktionen immer noch sehr stark und die konservativen Kräfte haben die Macht.» Und man kann nur träumen «von einer Schweiz, wo der Frauenanteil in allen Gruppen bei 60 % liegt, da sie erst dann nachgewiesenermassen einen Einfluss auf die Entscheidungen haben.» Vielleicht Gegenstand einer Abstimmung in einer, hoffentlich, nicht so utopischen Zukunft?
Vertretung der Frauen in der Politik
Im Bundesrat sitzen drei Frauen.
- 42 % Frauenanteil im Nationalrat.
- 26,1 % Frauenanteil im Ständerat.
- 24,7 % Frauenanteil in den Kantonsregierungen.
- 27,2 % Frauenanteil in den Städteexekutiven.
Quelle: OFS, Zahlen 2019-2020.

Valérie Vuille, Leiterin der feministischen Vereinigung DécadréE
Dieser Jahrestag sollte nicht von den vorhandenen Ungleichheiten ablenken.
Valérie Vuille
Valérie Vuille (30), Leiterin der feministischen Vereinigung DécadréE
Wir feiern 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz. Was ruft das bei Ihnen hervor?
Es ist ein bisschen seltsam, denn einerseits möchte man feiern, wie bei jedem Geburtstag, und andererseits erinnern diese fünfzig Jahre daran, dass das Stimm- und Wahlrecht sehr spät gekommen ist, dass es sich um einen Etappensieg handelt. Der Jahrestag sollte also nicht von den Ungleichheiten ablenken, die in der Gesellschaft noch deutlich vorhanden sind.
Ihre Vereinigung DécadréE beschäftigt sich vor allem mit sexistischer Gewalt… Wie manifestiert sich diese heute bei uns?
Sie manifestiert sich in der gesamten Gesellschaft, in allen Kreisen in äusserst unterschiedlicher Form, über verschiedene Arten von Gewalt: Vergewaltigung, Gewalt in der Ehe oder auch sexistische Witze, die bereits als Form von Gewalt angesehen werden. Und die Schweiz ist hier keine Musterschülerin. Bei uns weiss man z. B., dass alle zwei Wochen eine Frau infolge von Gewalt in der Ehe stirbt, aber sexuelle Gewalt ist auch im beruflichen Umfeld sehr stark vorhanden.
Wofür setzt sich der feministische Kampf heute in erster Linie ein?
Es gibt nicht nur einen feministischen Kampf, es wäre falsch, das zu behaupten. Zunächst müssen wir bei der Frage der sexistischen Gewalt – die in der Geschichte des feministischen Kampfes sehr spät zutage getreten ist – wirkliche Fortschritte erzielen, denn hier kristallisieren sich die Ungleichheiten heraus. Ebenso essenziell sind die Themen Frauenanteil und Bildung, denn dadurch kann man solide Basen für die Zukunft schaffen. Last, but not least müssen alle bisher errungenen Fortschritte gefestigt werden.

Marianne Ebel, Mitglied der Schweizer Sektion des Weltfrauenmarsches
Ich bin noch genauso wütend wie vor fünfzig Jahren.
Marianne Ebel
Marianne Ebel (72), Mitglied der Schweizer Sektion des Weltfrauenmarsches und des Frauenstreik-Kollektivs Neuenburg
«Das andere Geschlecht» von Simone de Beauvoir hat ihr über die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau die Augen geöffnet. Der Mai 68 hat ihr Lust darauf gemacht, die Welt zu verändern. «Ich bin Anfang der 70er Jahre bewusst zur Feministin geworden, zu einem Zeitpunkt, als die Befreiungsbewegung der Frauen überall auf der Welt auftauchte. Damals kämpften wir für das Recht, frei über unseren Körper zu verfügen, das Recht auf Abtreibung, das Recht auf freie und kostenlose Verhütung.»
Ein halbes Jahrhundert später führt die unermüdliche Frauenrechtlerin, die unverbesserliche Aktivistin den Kampf fort. Ihr Antrieb? Die Wut angesichts der Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, die Frauen immer noch erdulden müssen. «Ich bin noch genauso wütend wie vor fünfzig Jahren. Wir haben uns dafür eingesetzt, die gleichen Rechte zu bekommen und haben gewonnen, aber was nützt das, wenn das Prinzip nicht angewendet wird, wenn die Generation meiner Tochter und vielleicht sogar die meiner Enkelinnen davon nicht profitieren!»
Marianne Ebel hat Geduld gelernt und bleibt optimistisch. Vor allem, weil sie sieht, dass die Jungen die Führung übernehmen und die Massen mobilisieren. «Unsere Bewegung hatte noch nie solche Ausmasse angenommen.» Die Neuenburgerin setzt vor allem auf diese Kraft, um die geplante Anhebung des Rentenalters für Frauen «auszuknocken», ihr nächster Kampf... «Sie sehen, es gibt noch vieles, worüber man in Wut geraten kann!», sagt sie abschliessend.
Das Bundeshaus wird weiblich
Unter dem Titel «Frauen unter der Bundeshauskuppel» zeichnet die neue Themenführung im Parlament in Bern die Geschichte der Gleichberechtigungsbewegung im Bundeshaus nach – von der Eingangshalle, wo die Demonstrantinnen am 12. Juni 1969 ihre Transparente entrollten, bis hin zum Stillzimmer, das 2019 eingeweiht wurde. Die Besucher erfahren ausserdem mehr über die ersten zwölf Frauen, die 1971 gewählt wurden, und können sehen, wie Maler und Dekorateure das Bild der Frau in eine sehr männliche Szenografie eingebettet haben.
Von 27. März bis 23. November 2021, gratis, 90 Minuten.
Reservierung erforderlich: www.parlement.ch

Alenka Bonnard, Co-Geschäftsleiterin und Mitbegründerin von Staatslabor
Die Verwaltungen müssen unserer Zeit mehr entsprechen.
Alenka Bonnard
Alenka Bonnard (36), Juristin, Co-Geschäftsleiterin und Mitbegründerin von Staatslabor
«Das Staatslabor ist eine vom Migros-Pionierfonds unterstützte Vereinigung, die sich dafür einsetzt, dass die öffentlichen Verwaltungen unserer Zeit mehr entsprechen. Die Bedürfnisse der Bevölkerung und der Welt, die uns umgibt, haben sich nämlich radikal geändert. Ausserdem stehen die von Experten und hohen Funktionären entwickelten Projekte nicht immer in Einklang mit den Erwartungen der Leute. Unsere Mission ist es deshalb, die kommunalen, kantonalen oder föderalen Verwaltungen auf dem Weg zu einem besser funktionierenden öffentlichen Service zu begleiten. So haben wir beispielsweise mit mehreren Gleichstellungsbüros – die noch zu oft unterfinanziert sind und als «fünftes Rad am Wagen» der Verwaltung angesehen werden – Kontakt aufgenommen, um zu sehen, wie diese ihre Aktivitäten weiterentwickeln können. In diesem Rahmen haben wir mit der Stadt und dem Kanton Bern eine Austauschplattform für die Unternehmen gestartet, die direkt mit ihnen entwickelt wurde. Dieses Programm namens Werkplatz Égalité ermöglicht es den Berner KMU, im Bereich Chancengleichheit voneinander zu lernen. Die Unternehmen sind sich der Bedeutung bewusst, sich mehr in dieser Richtung zu engagieren, und der Austausch unter Gleichgesinnten hilft wirklich dabei, voranzukommen. Was die Gleichstellungsbüros in Bern betrifft, so gibt ihnen die Zusammenarbeit mit dem Staatslabor wie auch anderen Verwaltungen, mit denen wir zusammenarbeiten, die Möglichkeit, innovativer zu arbeiten.»

Nathalie Delbrouck, Mitglied des Frauenstreik-Kollektivs Neuenburg
Niemand sollte nach seiner Sexualität beurteilt werden.
Nathalie Delbrouck
Nathalie Delbrouck (29), Mitglied des Frauenstreik-Kollektivs Neuenburg
Nathalie Delbrouck verkörpert die neue Frauenrechtsbewegung, sie gehört zu jener Generation, die zur Gleichheit zwischen den Geschlechtern erzogen wurde. «In Wirklichkeit haben wir noch immer nicht dieselben Rechte und auch nicht dieselben Chancen wie die Männer. Frauen sind weniger gut bezahlt, besetzen Positionen mit geringerem Ansehen, die Aufteilung der Arbeiten im Haushalt bleibt ungerecht...» Diese Unterschiede wurden der Neuenburgerin während ihres Studiums der Politikwissenschaft an der Universität deutlich bewusst. Seither deklariert sie sich als Frauenrechtlerin.
Das Recht, frei über den eigenen Körper zu verfügen, steht auch im Zentrum ihrer Anliegen. «Bereits im Gymnasium erkannte ich, dass ein Mädchen, das neugierig war, das Erfahrungen sammelte, als Schlampe galt, während ein solches Verhalten bei den Jungen als positiv angesehen wurde. Das ist absurd, niemand sollte nach seiner Sexualität beurteilt werden!» Für sie ist der einzige Begriff, der zählen sollte, das Einverständnis. «Wenn man nein sagt, heisst das nein!» Sie begrüsst ausserdem die Fortschritte, die durch Bewegungen wie #MeToo oder #BalanceTonPorc (dt.: Verpfeif das Schwein) erreicht wurden, mit denen sexuelle Gewalt angezeigt wird. «Das Ganze hat eine Kultur der Vergewaltigung ans Licht gebracht, es hat eine gewisse Befreiung der Sprache erlaubt und es hat dazu beigetragen, die Frauenrechtsbewegung auf weltweiter Ebene zu erneuern.»
Mehr über das Frauenstreik-Kollektiv Neuenburg erfahren: grevefeministene.com
Tilo Frey vs Louis Agassiz
Die Feminisierung von Strassennamen löst eine Diskussion aus. Aber am meisten Tinte geflossen ist in Neuenburg, wo der Espace Louis-Agassiz im Jahre 2019 in Espace Tilo-Frey umbenannt wurde. Dabei wurden zwei Ziele verfolgt: Den Namen dieses für seine rassistischen Ansichten bekannten Glaziologen verschwinden zu lassen und die Erinnerung an diese schweizerisch-kamerunische Politikerin, Pionierin der Frauenemanzipation und der ethnischen Minderheiten zu würdigen.

Laurence Bassin, Präsidentin der Association romande des paysannes professionnelles
Ein Drittel der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft sind Frauen.
Laurence Bassin
Laurence Bassin (50), Landwirtin, Präsidentin der Association romande des paysannes professionnelles
Was sind die Hauptprobleme, mit denen sich die Bäuerinnen von heute konfrontiert sehen?
Vor allem geht es um die Entlohnung und die Sozialversicherung. Zunächst müssen wir uns vor Augen halten, dass ein Drittel der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft Frauen aus der Familie des Betriebsleiters sind. 2019 waren das mehr als 43'000 Frauen. Nun sind nur 30% von ihnen bei der AHV als Selbstständige oder Mitarbeiter des Betriebs gemeldet, die anderen werden für diese Tätigkeit nicht entlohnt. Wenn sie in Rente gehen, erhalten sie unzureichende Leistungen. Das bedeutet, dass die Frauen bei einem Unfall oder einer Krankheit nichts bekommen. Ein Grund, warum sie mindestens eine Verdienstausfallversicherung haben sollten.
Wie werden die Bäuerinnen in der ländlichen Umgebung wahrgenommen?
Eher gut, aber es gibt noch einen patriarchalischen Aspekt in der bäuerlichen Welt, der sich hartnäckiger hält als anderswo. Ausserdem bestehen ein paar Tabus, die die Bäuerinnen bei der finanziellen Anerkennung ihrer Arbeit bremsen. Sie müssten mehr geschützt werden, das ist auch das, was das Projekt der neuen Landwirtschaftspolitik vorsieht, das bis auf Weiteres ausgesetzt ist.
Wie hat sich die Frage der Bäuerinnen in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Sie hat sich enorm entwickelt, und zwar parallel zur Frauenfrage überall in der Schweiz, vielleicht um eine Spur verzögert. Es muss daran erinnert werden, dass 1978 gemäss dem alten Eherecht die Frauen noch ihren Mann bitten mussten, ihre Anmeldung zur «Bäuerin mit Fachausweis» zu unterschreiben. Heute ist das alles Schnee von gestern und die Frauen, die das möchten, können Betriebsleiterin werden, auch wenn bisher nur 6,6% diesen Weg eingeschlagen haben.
Ida Pidoux und Mauricette Cachemaille in der Geschichte
Sie war Sekretärin in der École Cantonale d’agriculture in Grange-Verney, in der Nähe von Moudon. Ihr Name war Mauricette Cachemaille. Am 20. Mai 1959 wurde Mademoiselle Mauricette Cachemaille, wie man damals zu sagen pflegte, die erste Frau in einem Schweizer Stadtrat. Ein paar Wochen zuvor, nur wenige Kilometer von hier entfernt, wurde am 19. April im Wahlbüro von Oulens, auf den Schlag genau um 13:00 Uhr, Mademoiselle Ida Pidoux, Besitzerin eines landwirtschaftlichen Anwesens, die erste Frau der Schweiz, die ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllte.

Gabrielle Nanchen, ehemalige Walliser Nationalrätin
Mein Mann war feministischer als ich.
Gabrielle Nanchen
Gabrielle Nanchen (78), Rentnerin, ehemalige Walliser Nationalrätin
1971 im Alter von 28 Jahren in den Nationalrat gewählt, gehört Gabrielle Nanchen zu den ersten zwölf Frauen, die unter die Kuppel einzogen. Eine Wahl, die sie überrumpelt hatte: «Die sozialistische Partei hatte mich gebeten zu kandidieren, ich hatte zugesagt, aus Aktivismus, aus idealistischen Gründen, aber ich wollte nicht gewählt werden, ich wohnte dort, wo ich immer noch wohne, in Icogne im Wallis, ich hatte kein Auto, ich hätte jemanden suchen müssen, der auf die Kinder aufpasst, es war nicht vorstellbar.» Sie zieht also in Betracht, ihre Wahl abzulehnen. «Aber mein Mann hat gesagt: ‹Kommt nicht in Frage, du musst die Entscheidung der Wähler honorieren.› Er hat es mit Hilfe seiner Mutter geschafft, sich um unsere Kinder zu kümmern. Als wir uns kennengelernt haben, war er, der Walliser, feministischer als ich, die Waadtländerin.»
Gabrielle Nanchen erinnert sich, dass Le Nouvelliste ihr Foto in schwarz-weiss veröffentlicht hatte, während die Kandidaten der zwei anderen Parteien in Farbe abgebildet waren. Ausserdem hatte man auf ihrem Mädchennamen mit italienischer Herkunft beharrt: Straggiotti.
Wenn man sie darauf hinweist, dass sich die Dinge kaum weiterentwickelt haben, da die aktuelle Walliser Vertretung in Bern aus neun Männern und einer einzigen Frau besteht, antwortet sie, dass das zwar «eines modernen und demokratischen Kantons nicht würdig ist», aber die Politik «etwas anderes ist. Das, was man als Bürgerin tut, ist ebenso wichtig.» Und obwohl die Stellung der Frauen in den offiziellen Einrichtungen noch zu schwach ist, «sind sie bei den Bürgeraktivitäten hingegen sehr gut vertreten und spielen eine wichtige Rolle, das hat man beim Frauenstreik oder bei den Klimademonstrationen gesehen.»
Die Protestaktion von Unterbäch
März 1957: Sogar die New York Times berichtet vom Dorf Unterbäch im Oberwallis, wo zum ersten Mal in der Schweiz Frauen an einer Bundesabstimmung teilnehmen, in dem Glauben, dass das Thema sie betraf: die Einrichtung eines verpflichtenden weiblichen Zivildienstes. Der Stadtrat hatte zwei Urnen vorgesehen, eine für die Männer, eine für die Frauen, sodass die Walliser Regierung die 33 von den Bürgerinnen abgegebenen Stimmzettel für ungültig erklären konnte.

Océane Gachoud, Verfasserin einer Maturitätsarbeit über die «Bremsklötze» für das Frauenstimmrecht in der Schweiz
Ich gehe wählen, um gegen Ungleichheiten zu kämpfen.
Océane Gachoud
Océane Gachoud (20), Studentin
Am 7. Februar 2021 wird die Freiburgerin Océan Gachoud 20 Jahre alt. Genau an dem Tag, an dem vor fünfzig Jahren die Eidgenossenschaft den Frauen das Stimm- und Wahlrecht gewährte. Ein glücklicher Zufall für diese Studentin, die für ihre hervorragende Maturitätsarbeit ausgezeichnet wurde, die ausgerechnet von den «Bremsklötzen» bei der Einführung des Frauenstimmrechts handelt! «Der Film Die göttliche Ordnung von Petra Volpe hat für das Aha-Erlebnis gesorgt. Er zeichnet den Weg einer Frauenrechtlerin in den 70er Jahren nach und das hat mich bewegt, in jeder Hinsicht aufgewühlt. Ich wollte hinter das Geheimnis kommen, warum die Schweiz den Frauen so spät das Stimm- und Wahlrecht gewährt hatte.» Gepackt von ihrem Thema, liest sich Océane Gachoud ein, trifft sich mit engagierten Pionierinnen und Historikerinnen wie Brigitte Studer oder Elisabeth Joris. Warum war die Schweiz hier im Rückstand? «Das Patriarchat war gut verankert. Die Stereotypen der Frau am Herd, die die Kinder erzieht, haben sich in der Werbung und in den Köpfen gehalten. Die Männer konnten ihrer Frau bis 1988 verbieten, arbeiten zu gehen!» Océane Gachoud ist perplex und erklärt sich heute sensibel für die Frauenrechte, glaubt aber nicht an den Kampf durch Widerstand. «Um gegen Ungleichheiten zu kämpfen, gehe ich wählen! Es ist ein Recht und eine Pflicht. Es nicht auszuüben, ist skandalös. 1971 hat es das «ja» auf 65,7% gebracht. Das heisst, dass jede Stimme zählt!»
Text: Nadia Barth, Patricia Brambilla, Véronique Kipfer, Alain Portner, Laurent Nicolet, Pierre Wuthrich
Fotos: Niels Ackermann, Julie de Tribolet
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