Herr Schöbi, Unternehmensgründungen boomen. Gibt es auch immer mehr Pioniere und Pionierinnen?
Hoffentlich. Denn es gab auch noch nie so grosse und dringende Herausforderungen auf der Welt. Aber nicht alle Unternehmer*innen sind auch Pionier*innen. Wir suchen Changemaker, die die Gesellschaft mit bahnbrechenden Ideen verändern wollen.
Sie haben in den letzten neun Jahren 100 Millionen Franken in 100 Pionierprojekte gesteckt. Ist das gut angelegtes Geld?
In die Gesellschaft zu investieren, ist immer eine gute Idee, das wusste bereits Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler. Unsere Investments sind nachhaltig angelegt, sie sollen die Gesellschaft in anspruchsvollen Fragen unterstützen und zum Guten verändern. Unser jüngstes Projekt, Thingsy, etwa zielt darauf ab, das Leben von Elektrogeräten zu verlängern. Wie vielen anderen unserer Projekte geht es Thingsy damit nicht um eine schnelle Rendite, sondern eine langfristige gesellschaftliche Wirkung.
Wie kommen die Ideen zu Ihnen?
Die kommen nicht von selbst, wir suchen sie gezielt. Mit acht Scouts, die täglich Pionier*innen aufspüren, in Bereichen wie Kreislaufwirtschaft, Mobilität und Technologie & Ethik.
Wie findet der Migros-Pionierfonds die «richtigen» Pionierprojekte?
Wir haben klare Suchfelder definiert – Zielsetzungen, von denen wir denken, dass sie für unsere Welt und Gesellschaft von besonderer Bedeutung sind. Die Extraktion des CO2 aus der Luft gehört dazu, ebenso die aktive Teilnahme an der Demokratie oder die Nutzung der Digitalisierung für die brennendsten gesellschaftlichen Fragen. Wir starten meist bei Ideen, von denen wir sagen: «Das müsste man doch machen.» Dann beginnt ein langer Weg der Prüfung und Planung eines Vorhabens, auf dem wir auch die beteiligten Pioniere und Pionierinnen auf Herz und Nieren testen.

Gute Projekte entstehen im Team. Und das muss gut funktionieren, um die gesteckten Ziele trotz Schwierigkeiten und Veränderungen zu erreichen.
Stefan Schöbi Leiter Migros-Pionierfonds
Wie viel Geld bekommen Pionier*innen von der Migros?
Wir unterstützen Projekte im Schnitt während 3.5 Jahren. Die Beiträge pro Projekt bewegen sich zwischen mehreren hundert Tausend und mehreren Millionen Franken.
Ihr Team begleitet Pionierprojekte drei bis fünf Jahre lang. Wie unterscheidet sich dieses Coaching von traditionellen Programmen und Plattformen für Jungunternehmen?
Unsere Projekte sind nicht Startups im klassischen Sinne. Der Businessplan ist zwar auch zentral. Aber ebenso wichtig ist die gesellschaftliche Wirkung, die Pionier*innen erreichen wollen, das Umdenken, das sie auslösen möchten. Nur wenn beides Hand in Hand geht, sind sie erfolgreich.
Über den Migros-Pionierfonds
Der Migros-Pionierfonds wurde 2012 gegründet, um Innovationen für den gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen und zu unterstützen. Der Förderfonds ist Teil des gesellschaftlichen Engagements der Migros-Gruppe, zu dem auch das Migros-Kulturprozent zählt. Er wird von den Migros-Unternehmen Denner, Migros-Bank, Migrol und migrolino getragen und verfügt über jährlich ca. 15 Millionen Franken. Mitte September 2021 hat der Migros-Pionierfonds einen Meilenstein erreicht: Er hat 100 Projekte ermöglicht und insgesamt 100 Millionen Franken investiert.
Was, wenn eine Idee scheitert?
Das kommt vor – wenn auch nur selten. Man kann keine ambitionierten, visionären Ideen umsetzen, ohne dass hin und wieder etwas schiefläuft. Wichtig ist, dass man aus diesen Fehlern lernt.
Welche Fehler passieren?
Ganz unterschiedliche. Die Bedürfnisse der Kund*innen werden falsch eingeschätzt, oder man verliert sich in technischen Details. Manchmal scheitern Projekte auch, weil der Markt dreht, oder weil doch noch ein Konkurrent auftaucht. Der wichtigste Faktor ist aber der Mensch.
Weil Pioniere und Pionierinnen oft Diven sind?
Sie sind ab und zu stur, ja. Das müssen sie ein Stück weit sein, um ihre ambitionierten Ziele zu erreichen. Aber sie agieren meist nicht alleine. Gute Projekte entstehen im Team. Und das muss gut funktionieren, um die gesteckten Ziele trotz Schwierigkeiten und Veränderungen zu erreichen.
Welche Rolle spielt der Austausch zwischen den geförderten Pionier*innen?
Eine sehr grosse Rolle! Die Pioniere und Pionierinnen der laufenden und abgeschlossenen Projekte bilden ein Netzwerk, in dem ein reger Erfahrungsaustausch stattfindet – auch über die einzelnen Themenbereiche hinweg. Die Community ist der Schlüssel, um ein Projekt noch stabiler und in sich lernfähig zu machen.
Wir haben klare Suchfelder definiert – Zielsetzungen, von denen wir denken, dass sie für unsere Welt und Gesellschaft von besonderer Bedeutung sind.
Stefan Schöbi Leiter Migros-Pionierfonds
Was raten Sie Pionierinnen und Pionieren, um erfolgreich zu sein?
Packt eure Ideen an, beherzt aber sorgfältig. Wir publizieren zum Jubiläum ein Handbuch mit praktischen Tipps und Instrumenten, kurz: mit allem, was wir von 100 Projekten gelernt haben. «Von 0 auf 100 – Ideen werden Wirklichkeit» wird in einem offenen Prozess und im Austausch mit Pionieren und Pionierinnen laufend ergänzt.
Sie haben 100 Pionierprojekte an den Start gebracht. Was sind Ihre Erfolgsmomente?
Fast jedes Projekt erlebt anspruchsvolle Krisen. Unser grösster Erfolg ist, wenn sich diese überwinden lassen und ein Projekt den Durchbruch erlebt. Wenn zum Beispiel bei Stop Hate Speech der Algorithmus für die Erkennung der Hassreden plötzlich greift. Wenn Twiliner für ihren Nachtreisebus in den Medien landet und Zuspruch findet. Oder wenn der Umsatz mit nachhaltiger, regional produzierten Mode bei Laufmeter wächst und die Gewinnschwelle näher rückt.
Was haben Sie persönlich in diesen neun Jahren gelernt?
Ich weiss vor allem, dass ich nie ausgelernt habe. Wer wirklich etwas bewegen will, der lernt täglich von anderen Menschen dazu und nimmt sich nicht zu wichtig.
Wie gross ist Ihr Budget in den kommenden Jahren?
Das hängt davon ab, wie gut es den Tochterunternehmen der Migros in den kommenden Jahren geht. Unser Budget stammt aus der Dividende von Denner, Migros-Bank, migrolino und Migrol. Aktuell beträgt es 15 Millionen Franken im Jahr.
Wo investieren Sie als nächstes?
In die nächsten mindestens 100 Pionierprojekte (lacht). Wir beobachten gesellschaftliche Veränderungen, ergänzen unsere Themenschwerpunkte und passen unser Projekt-Scouting laufend an.
Stefan Schöbi
Stefan Schöbi (Jahrgang 1977) leitet den Migros-Pionierfonds seit seiner Gründung 2012. Zuvor war er Leiter Hochschulmarketing der Zürcher Hochschule der Künste. Stefan Schöbi hat in deutscher Literaturwissenschaft promoviert und besitzt einen Master in Business Administration.
Fotos: Jasmin Frei
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