Stolz und erleichtert sei er, sagt Karlheinz Müller mit einem zufriedenen Lächeln. Seine Arbeit an der Tonhalle Zürich begann vor 20 Jahren – mit der Wiedereröffnung des restaurierten Konzertsaals Anfang September ist sein Werk nun vollendet. «Und die ersten Musiker, die darin gespielt haben, bestätigen unsere Messungen: Die Akustik ist sogar noch besser als vorher.»
Selbstverständlich ist das nicht, denn schon vor ihrer Restaurierung galt die 1895 erbaute Tonhalle bei Orchestern und Publikum als herausragende Stätte für klassische Konzerte. Und dies obwohl es zur Zeit des Baus noch keine Akustik-Ingenieure wie Karlheinz Müller gab. Wie ist das möglich? Müller lacht. «Weil die Komponisten damals ihre Werke so komponierten, dass sie in diesen Sälen besonders eindrucksvoll klangen – das waren alles Hobby-Akustiker.» Ein ernsthaftes Thema wurde die Akustik erst in den 1920er- und 30er-Jahren mit dem Aufkommen des Rundfunks.
Einen hoch angesehenen Saal bei einer Restauration akustisch zu betreuen, ist laut Müller deutlich herausfordernder als bei einem Neubau. «Es ist viel vorgegeben, mit dem man arbeiten muss – und etwas Gutes noch besser zu machen, ist nicht leicht.» Aber der Akustik-Ingenieur aus München, dem man seine 80 Jahre in keinem Moment anmerkt, bringt Jahrzehnte Erfahrung mit und hat sich schon um die Klangqualität von Konzertsälen in aller Welt gekümmert, etwa die New York State Opera oder das Teatro del Lago in Chile. Müller-BBM, das Unternehmen für das er tätig ist, wurde einst von seinem älteren Bruder gegründet und gehört global zur Top-Liga in Sachen Akustik. «Ich bin heute allerdings nur noch gemeinsam mit jüngeren Kollegen aktiv und übernehme keine eigenen Projekte mehr federführend.»
Suche nach Schwachstellen
Vor 20 Jahren also begann er damit, die damalige Akustik in der Tonhalle zu dokumentieren. «Da bewegt man sich mit Messinstrumenten Quadratmeter für Quadratmeter durch den ganzen Saal und sämtliche Wände entlang bis hoch zur Decke. Bei Proben, aber auch mit vollbesetztem Publikumsraum.» Zudem spreche man mit Musikerinnen und Musikern – alles mit dem Ziel herauszufinden, was bereits gut ist und warum. Und wo der Saal früher vielleicht schon mal besser war, wo Schwachstellen sind. «Die versucht man dann bei der Restauration zu verbessern.»
Dass ihm dies auch bei der renommierten Tonhalle gelungen ist, freut ihn sichtlich. «Es ging vor allem darum, den guten Bassbereich zu erhalten und den Klang bei den hohen Tönen zu stärken, damit sie länger nachhallen», erklärt er. «Und es sind nicht zwei, drei Dinge, die man dafür anpasst, es sind zahllose kleine Stellschrauben, an denen man ein wenig dreht – eine mühsame kleinteilige Arbeit, die oft unterschätzt wird.» Mitbeeinflusst hat Müller unter anderem den neuen Fussboden, das neue Podium, die verstärkte Decke, die abgedichteten Fenster oder die Farben. «Wir haben wirklich jedes Bauteil, das erneuert wurde, unter akustischen Aspekten geprüft.»
Dabei kollidieren die Ansprüche des Akustikers durchaus ab und zu mit den Vorstellungen oder finanziellen Möglichkeiten des Bauherrn. «Wir verursachen Kosten, können aber selten sagen, um wieviel die Akustik dadurch genau besser wird», sagt Müller. «Es hilft also, auch gewisse diplomatische Fähigkeiten zu haben.» Bei der Tonhalle jedoch habe er alles machen können, was er wollte. «Aber wir haben auch schon Aufträge abgelehnt, weil schnell klar war, dass die Differenzen mit dem Bauherrn zu gross waren.»

Foto: Désirée Good
Im Prinzip möchte das Orchester, dass der Saal seine Musik trägt und optimal ans Publikum transportiert. Dieses wiederum möchte umhüllt sein vom Klang und einen Nachhall spüren.
Karlheinz Müller
In der Klangwolke sitzen
Umbau und Restauration von Tonhalle und Kongresshaus begannen 2017. Der Konzertsaal wurde wieder näher an den ursprünglichen Zustand von 1895 gebracht und gleichzeitig mit modernster Technik ausgestattet. Das Tonhalle-Orchester spielte inzwischen in einem Provisorium auf dem Maag-Areal, dessen guter Klang zu Beginn alle überraschte. Auch dafür war Müller zuständig.
Aber was ist überhaupt gute Akustik? «Darüber lässt sich prima streiten», sagt Müller. «Aber im Prinzip möchte das Orchester, dass der Saal seine Musik trägt und optimal ans Publikum transportiert. Dieses wiederum möchte umhüllt sein vom Klang und einen Nachhall spüren.» Idealerweise sollte der Klang dabei weder zu klar noch zu verschwommen sein. «Wer den klareren bevorzugt, sitzt eher vorne im Saal, wer die Klangwolke mag, eher hinten.» In der Tonhalle allerdings gebe es keine so grossen Unterschiede. «Der Saal liefert ein sehr einheitliches Klangbild.»
Schlechte Akustik führt beim Konzertbesucher Müller dazu, dass er gedanklich abschweift und nicht mehr wirklich von der Musik gefangen ist. «Ein klares Zeichen, dass entweder die Leistung des Orchesters schlecht ist oder die Akustik.» Wobei er einräumt, dass eine gute Darbietung letztlich wichtiger ist. «Eine schlechte Leistung kann auch gute Akustik nicht retten. Aber eine gute Leistung wird von guter Akustik nochmals verstärkt, quasi gekrönt.»
Grundarchitektur und Materialen sind dabei entscheidend. «Ein runder Bau ist schwierig für einen klassischen Konzertsaal, besser sind recht- oder mehreckige Formen.» Ein Saal komplett aus Glas wäre ebenfalls ungeeignet. «Aber es gibt kein Material, das gar nicht geht – es ist immer eine Frage der Menge, Mischung und Verteilung.»
Gerne auch mal Heavy Metal
Säle wie die Tonhalle eignen sich jedoch nicht für elektronisch verstärkte Klänge. «Heavy Metal wäre hier kein Genuss», erklärt Müller, «sondern nur noch verschwommener Lärm, weil der Saal akustisch so lebendig ist.» Heavy Metal? Oh ja, der feinsinnige 80-Jährige ist auch anderen als klassischen Klängen durchaus zugeneigt. «Aber in Rock- oder Metalkonzerte gehe ich nur mit Ohrenstöpseln.» Und auch wenn er diese Musik spannend findet, tief im Herz berührt ihn schon eher Klassik aus dem Barock bis zur Spätromantik und der Neuzeit – oder Jazz.
Karlheinz Müller ist in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen und spielte schon zur Schulzeit in einer Dixie-Band. In die Akustik ist er «irgendwie reingerutscht», nachdem sein Bruder die Firma gegründet hatte. Ursprünglich war er Bauingenieur, brachte damit aber genau die ideale Kombination mit: kunstinteressiert und technikaffin. «Ein guter Akustiker braucht beides, denn Zahlen und Berechnungen sind ein wichtiger Teil der Arbeit, die Physik, Musik und Baukunst umfasst.»
Allerdings beschäftigt man sich bei Müller-BBM nicht nur mit Konzertsälen. Akustik-Ingenieure sind auch gefragt, wenn es darum geht, Lärm zu reduzieren, etwa an Bahnlinien, Autobahnen oder bei Fahrzeugmotoren. Müller jedoch ist auf grosse Konzertsäle spezialisiert – und liebt es auch, Konzerte aller Art zu besuchen, bevorzugt in einem Saal mit guter Akustik. Aus beruflichen Gründen sitzt er gelegentlich auch mal in den anderen. «Schliesslich muss man wissen, wie das klingt, was man zu vermeiden versucht.»
Weitere Infos: tonhalle.ch, seeyouamsee.ch
Die Eröffnungskonzerte finden am 15. und 16. September 2021 statt. Besichtigt werden können Kongresshaus und Tonhalle am 4. und 5. September.
Migros-Kulturprozent-Classics
Das erste von der Migros organisierte Konzert in der Tonhalle Zürich fand bereits 1953 statt. Seither waren es über 500 mit mehr als einer halben Million Gäste. Wie begehrt ein Auftritt in der Tonhalle ist, illustriert auch die kleine Odyssee des Russischen Nationalorchesters. Dieses wollte 2010 nach Zürich fliegen, als ein Vulkanausbruch in Island den Flugverkehr über Europa lahmlegte. Kurzerhand machten sie sich auf dem Landweg auf die Reise, brauchten dafür 30 Stunden und schafften es gerade rechtzeitig zum geplanten Termin.
Das erste Konzert der Kulturprozent-Classics in der restaurierten Tonhalle findet am 21. Oktober 2021 statt. Das London Symphony Orchestra unter Leitung von Daniel Harding spielt Werke von William Walton und Johannes Brahms.
Infos und Tickets: migros-kulturprozent-classics.ch
Foto/Bühne: Désirée Good
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