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Ein Gewinnerfilm über das gewöhnliche Aussergewöhnliche

Text

Pierre Wüthrich

Erschienen

05.11.2021

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Der Dokumentarfilm «Les Nouvelles Èves» wurde von sechs Regisseurinnen gedreht, die in den Alltag von sechs Frauen in der Schweiz eintauchen. Berichte von Frauen auf der Suche nach einer beruflichen Zukunft, der Liebe, einer Identität, nach Freiheit oder Respekt in einer Welt, die nicht unbedingt für sie gemacht ist.

Sechs Frauen aus der Sicht von sechs Regisseurinnen. Das ist der facettenreiche Dokumentarfilm «Les Nouvelles Èves», der ein einziges Ziel verfolgt: Alltagsheldinnen zu zeigen. So etwa Naima, die ihre venezolanischen Diplome nicht anerkennen lassen konnte und deshalb mit den Behörden um eine Berufsausbildung ringt. Valeria, die sich neu verlieben möchte, um den Ruhestand zu zweit zu geniessen. Oder die junge Erwachsene Delphine, die verschiedene Identitäten erforschen möchte. Cosima, die die Welt mit ihren kindlichen Augen entdeckt. Sela, eine Sopranistin, die in der Welt der Kultur mit Stereotypen konfrontiert wird. Und Sophie, die Karriere und Familie schaukelt und dabei vergisst, auf sich selbst zu achten.

«Les Nouvelles Èves» von Camille Budin, Annie Gisler, Jela Hasler, Thais Odermatt, Wendy Pillonel und Anna Thommen wurde in der Westschweiz, im Tessin und in der Deutschschweiz gedreht und ist der Gewinnerfilm der letzten Ausgabe des Migros-Kulturprozent CH-Dokfilm-Wettbewerbs (mehr dazu weiter unten). Er katapultiert die Zuschauer*innen mitten in die gewöhnlichen Leben dieser sechs Frauen. Gewöhnliche Leben, die aber – wie das Leben Tausender anderer Frauen – dennoch aussergewöhnlich sind. 
 

Kinostart in der Deutschschweiz: 18. November 2021.

«Dieser Film war ein Elektroschock»

Sophie Swaton ist Lehr- und Forschungsrätin für Sozial- und Solidarwirtschaft an der Universität Lausanne und Präsidentin der Fondation Zoein. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.

Sophie Swaton, zwischen Ihren Kursen an der Universität, dem Managen der Freizeitaktivitäten Ihrer Kinder und den Hausarbeiten erscheint Ihr Alltag im Film mehr als voll. Bleibt Ihnen da auch noch Zeit, um zu entspannen und Energie zu tanken?
Dieser Film war ein Elektroschock für mich. Mir war zwar schon bewusst, dass ich viele Dinge mache, aber mich dabei zu sehen, war sehr heftig. Ich dachte mir: «Diese Frau wird zusammenbrechen. So wird sie nicht lange durchhalten.» Aber diese Frau war ja ich selbst!

Wollen Sie also etwas ändern?
Ja, der Dokumentarfilm war heilsam für mich und ich habe Vorsätze gefasst. Ich werde mehr Zeit mit meinen Freundinnen verbringen. Ausserdem möchte ich mit orientalischem Tanz beginnen, um meinen künstlerischen Ausdruck zu entwickeln, und mit dem Boxen, um zu lernen, Grenzen zu setzen.

Im Film sieht man Sie geben, geben und noch mehr geben. Woher kommt diese Selbstlosigkeit?
Ich komme aus einer grossen Familie, genau wie meine Mutter. Die Frauen waren es gewohnt, einen Haufen Dinge zu bewerkstelligen, wenn die Ehemänner nicht da waren. Ich bin mit diesen Werten aufgewachsen, mit dem Erbringen von Opfern, mit der Notwendigkeit, sich nützlich zu machen.

Und das geht so weit, dass Sie das Gefühl haben, es käme einem Verrat gleich, nicht mehr zu geben?
Genau. Wenn eine Frau, die immer für alle anderen da ist, die nie nein sagt und sich nie beschwert, plötzlich anfängt zu sagen, dass sie zum Beispiel keine drei Mahlzeiten am Tag mehr zubereiten kann, dann kann ihr Umfeld das durchaus als eine Art Verrat empfinden. Für eine Frau ist es natürlich sehr schwierig, damit umgehen zu müssen.

Sophie Swaton

Sophie Sawton, Filmprotagonistin

Und gelingt es Ihnen mittlerweile?
Ich arbeite daran. Genauso wie ich daran arbeite zu lernen, nicht nur zu geben, sondern auch anzunehmen, ob es nun Unterstützung oder ein Kompliment ist. Ich habe schon immer dazu tendiert, das, was ich tat, zu unterschätzen, und mir weiszumachen, dass es normal sei. Der Film zeigt ja Alltagsheldinnen, aber ich sah mich davor überhaupt nicht als Heldin.

Sondern Sie fühlten sich dominiert ...
Ja. In der Arbeitswelt bin ich als Professorin, trotz aller Bemühungen, immer noch sexistischen Bemerkungen ausgesetzt. Ausserdem habe ich nicht denselben Grad wie ein männlicher Kollege, obwohl dieser zum Beispiel weniger Publikationen vorweisen kann als ich. Was ich mache, wird auch gerne herabgespielt, und mir wird unterschwellig zu verstehen gegeben, was ich sagen oder tun sollte. Ich möchte einfach gleich behandelt werden, ohne als anmassend zu gelten. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Und auch im familiären Bereich bin ich mit einer Art von Dominanz konfrontiert.

In welcher Weise?
Wenn mein Mann von einer Geschäftsreise nach Hause kommt, darf er sich ausruhen und alle werden das als ganz selbstverständlich betrachten. Von mir wird hingegen erwartet, dass ich sofort wieder den Alltag schmeisse, sobald ich zurück zu Hause bin.

Hat Ihr Mann den Film gesehen?
Noch nicht, und ich glaube, dass er überrascht sein wird. Vielleicht auch enttäuscht, weil er das Gefühl hat, bei den Aufgaben in Bezug auf die Familie mitzuhelfen. Aber er sieht ganz bestimmt nicht, was ich alles mache.

Wie begegnen Sie dieser Dominanz?
Kooperation ist ein wichtiges Schlüsselwort für mich. In einer Partnerschaft müssen sich beide gegenseitig unterstützen und wenn der eine mal nicht da ist, muss der andere die Familie managen. In der Gesellschaft müssen Möglichkeiten für alleinstehende Frauen geschaffen werden, damit sie zum Beispiel ihre Kinder betreuen lassen können. Wir müssen alle zusammenarbeiten.

Welche Botschaft wollen Sie mit diesem Film vermitteln?
Ich finde, dass sich im Endeffekt alle Frauen sehr ähnlich sind, weil wir dasselbe Bedürfnis haben, nämlich, dass uns die Gesellschaft nicht herabwürdigt, sondern uns hilft, einen Platz in ihr zu finden, der es uns ermöglicht, uns zu entfalten. Davon würden alle profitieren.

War es für Sie wichtig, diesen Film zu machen?
Mein Name wurde mehrmals vorgeschlagen, und zwar als Beispiel für die Powerfrau, die Karriere und Familienleben jongliert. Meine Überlegung war dann die folgende: Wenn dieser Dokumentarfilm anderen Frauen helfen kann, dann muss ich ihn machen. Ausserdem gefiel mir die Idee dieses Films aus mehreren parallelen Strängen, der verschiedene Facetten der Frau zeigt. Als ich den Film dann gesehen habe, musste ich an die vielen Facetten eines Diamanten denken. Es war übrigens ziemlich überwältigend, ihn zu sehen. Die fünf anderen Frauen sind grossartig. Und ich glaube, dass dieser Film, mit viel Feingefühl und etwas Humor, etwas bewegen kann.

Wie beurteilen Sie die Stellung der Frau in der Schweiz im Jahr 2021?
Die Schweiz hat grosse Fortschritte gemacht, aber es bleibt noch vieles zu tun, um eine Gleichstellung von Frau und Mann zu erreichen. Ich würde mir wünschen, dass sie an seiner Seite steht und nicht vor oder über ihm. Was ich unsinnig finde, ist, wenn Frauen, im Extremfall, zum Beispiel keine Werke mehr lesen wollen, die von Männern geschrieben wurden. Das ist nicht die Gesellschaft, die ich mir wünsche.

Sind Sie optimistisch?
Ja, ich glaube, dass wir uns trotz allem in die richtige Richtung bewegen. Viele fortschrittliche Männer engagieren sich mit den mutigen Frauen, die es wagen, Tabus zu brechen. Und wenn ich mit meinen Studierenden diskutiere, dann merke ich, dass Bewusstsein für dieses Thema vorhanden ist, und ich spüre viel Respekt in der neuen Generation.

Das Kulturprozent liebt das Kino

Während zehn Jahren schon unterstützt das Migros-Kulturprozent das Kino mit der Organisation eines Dokumentarfilm-Wettbewerbs, bei dem, zusammen mit der SRG SSR, ein Preisgeld von 480 000 Franken für das Gewinnerprojekt zur Verfügung gestellt wird. Diese Summe wurde jedes Jahr vergeben und ermöglichte die Realisierung von zehn Dokumentarfilmen, darunter den mehrfach ausgezeichneten Film «Zum Beispiel Suberg».

2020 hat das Migros-Kulturprozent seine Unterstützung neu ausgerichtet und das Story Lab ins Leben gerufen. Dieses Laboratorium ist offen für alle audiovisuellen narrativen Formate – von Serie und Games bis Virtual Reality und natürlich Kinofilme.

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