Seine Eltern erfuhren es zuletzt. «Ich wusste, dass das schwer wird, und habe es so lange wie möglich hinausgezögert», erzählt Burak Ates. Der 26-jährige Solothurner mit türkischen Wurzeln hatte am Casting für einen Film teilgenommen, zum ersten Mal überhaupt.
Eigentlich arbeitete er als Produktionsmechaniker in der Uhrenindustrie, war damit aber nicht so richtig glücklich. «Ein Freund machte mich dann auf diesen Castingaufruf aufmerksam.» Gefragt war ein gut aussehender, sportlicher junger Mann mit türkischen Wurzeln. Warum nicht, dachte er sich und ging hin, gemeinsam mit seiner damaligen Freundin.
Seine Freundin ermutigte ihn
Erst beim Casting selbst erfuhr er Details zur Rolle: Es ging um Beyto, einen Secondo mit türkischen Wurzeln, der sich in einen Mann verliebt. «Das hat mich zunächst mal zögern lassen, weil ich mir Sorgen machte, wie mein Umfeld darauf reagiert.»
Doch seine Freundin sprach ihm Mut zu. «Sie fand, ich solle das durchziehen – und sie hätte nur dann ein Problem, wenn ich im Film eine andere Frau küssen müsste», erzählt Burak mit einem breiten Grinsen.
Als Nächstes informierte er seine Freunde. «Die fanden das erst mal seltsam, und es gab auch ein paar Sprüche.» Aber er sei ja ohnehin immer ein bisschen der Clown in der Gruppe. «Und als sie realisierten, dass es mir ernst ist, haben sie mich unterstützt, waren sogar ein bisschen beeindruckt.»
Doch zuerst musste er die Rolle bekommen, schliesslich hatte er keinerlei schauspielerische Erfahrung. «Das Einzige war ein Schultheater im Kindergarten – immerhin auch da schon die Hauptrolle», sagt er lachend.
Einige andere Kandidaten sagten dann tatsächlich wegen möglicher negativer Reaktionen ihres Umfelds ab. Ausserdem verstanden sich Burak und sein Filmpartner Dimitri Stapfer auf Anhieb blendend. Am Ende bekam der junge Solothurner die Zusage. «Per Telefon von der Regisseurin Gitta Gsell, als ich gerade auf dem Rücksitz eines Autos sass, neben mir ein riesiger zusammengerollter Teppich, vorne meine Eltern, die eben aus der Türkei heimgekommen waren.»
Und so rang er sich also durch, ihnen davon zu erzählen, noch im Auto auf dem Heimweg nach Solothurn. «Sie waren nicht begeistert, dass ich einen Schwulen spielen wollte, und versuchten, mich davon abzubringen.» Doch Burak blieb standhaft. Als im Sommer 2019 die Dreharbeiten für den vom Migros-Kulturprozent unterstützten Film begannen, verheimlichte er ihnen allerdings, weshalb er dauernd nach Zürich ging, und behauptete, Freunde zu treffen. In Wirklichkeit probte er.
Nervosität nach der Pride
«Der erste Drehtag fand an der Zürich Pride statt, mit mir und Dimitri mittendrin. Als ich abends heimkam, schauten meine Eltern die Nachrichten, wo es prompt einen Beitrag zur Pride gab. Ich dachte, oh nein, wenn die jetzt uns zeigen … wir sind nämlich mit dem Dreh dort ziemlich aufgefallen.» Doch er hatte Glück. Sein Vater machte allerdings wenig freundliche Kommentare zu den TV-Szenen.
«Meine jüngere Schwester hat mich dann später verpetzt, kurz bevor ich für weitere Szenen in die Türkei flog.» Aber das sei dann irgendwie auch okay gewesen. «Sie waren zwar immer noch dagegen, haben aber auch verstanden, dass ich kein kleiner Junge mehr bin und meine eigenen Entscheidungen treffe.»
Der Filmdreh war für den Neuling eine Herausforderung. «Aber Dimitri hat mir sehr geholfen, ich habe viel von ihm gelernt.» Er entwickelte sogar ein eigenes Verfahren, um im richtigen Moment die richtigen Emotionen überzeugend rüberzubringen. «Ich habe bestimmte Gegenstände mithilfe von Musik mit entsprechenden Gefühlen quasi aufgeladen. Wenn es dann so weit war, zog ich mich schnell eine Minute mit dem Gegenstand zurück und konnte dieses Gefühl dann für die Szene abrufen.»
Ein wenig Angst hatte Burak vor den intimen Szenen mit seinem Filmpartner. «Meine Sorge war, dass es nicht echt genug rüberkommt. Aber Dimitri war super professionell und unterstützend.» Und heute gehören gerade diese Sequenzen zu seinen liebsten. «Sie wirken authentisch und sind wichtige Wegmarken für Beytos Entwicklung.» Überhaupt ist ihm seine Rolle sehr nahegekommen. «Es ist eine tolle, wichtige, berührende Geschichte. Beyto bricht aus und findet zu sich – und ich erlebe ja irgendwie gerade etwas Ähnliches.»
Die Nöte der schwulen Freunde
Die Geschichte, die auf einem Roman des in Winterthur lebenden kurdischen Schriftstellers Yusuf Yesilöz basiert, sei zudem sehr realistisch, sagt Burak. Beytos Eltern sind so entsetzt, dass sie ihren Sohn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in ihr Heimatdorf in die Türkei locken, wo sie bereits eine Hochzeit mit einer Jugendfreundin arrangiert haben – und ihm vor Ort den Pass wegnehmen, damit er nicht flüchten kann.

Foto: Gian Marco Castelberg
«Ich habe einige schwule Freunde mit türkischen Wurzeln, und die haben Vergleichbares durchgemacht.» Burak erzählt von jemandem, der geschlagen und gefoltert wurde, jemandem, der aus dem Haus und der Familie geworfen wurde, jemandem, der in die Türkei geschickt wurde, um dort wieder «normal» zu werden. «Es ist schlimm. Dabei ist Liebe doch Liebe, egal in welcher Form.»
Erste positive Effekte im Umfeld
Burak hofft deshalb, dass dieser Film in der türkischen Gemeinschaft der Schweiz gesehen wird und etwas auslöst. «Ein schwuler Kollege, der beim Film als Statist mitwirkte, kam an einem Drehtag zu mir, umarmte mich und bedankte sich für meinen Mut. Ich könne mir gar nicht vorstellen, was es für ihn und andere in seiner Situation bedeute, dass dieser Film entstehe, sagte er mir.»
Auch bei Buraks Hetero-Freunden hat «Beyto» bereits etwas bewirkt. «Die waren an der Premiere dabei und finden den Film grossartig, haben jetzt auch viel mehr Verständnis für die Nöte von Schwulen.»
Seine Schwester war ebenfalls anwesend und gratulierte ihm. Die Eltern hingegen kamen nicht, obwohl sie eingeladen waren. «Sie werden den Film wohl nie sehen», sagt Burak seufzend, «was ich wahnsinnig schade finde.» Seine Mutter unterstützt aber inzwischen seine Schauspielpläne, während der Vater sich damit immer noch schwertut.

Burak lässt sich auch von Widerständen nicht so schnell aus der Bahn werfen. Foto: Gian Marco Castelberg
Fanpost aus der Türkei
Hingegen bekam er eine überraschende Nachricht von zwei Onkeln aus der Türkei, die den Trailer des Films gesehen hatten: «Sie haben mir gratuliert und hoffen, dass ich auch mal in einem türkischen Film mitspiele.» Was er sich durchaus vorstellen könnte.
Den Eltern zuliebe und damit er ein kleines Sicherheitsnetz hat, absolviert der 26-Jährige nebenher eine Ausbildung als Wirtschaftsinformatiker. Aber sein Fokus liegt auf der Schauspielausbildung, die er Anfang dieses Jahres begonnen hat. Deswegen ist er auch nach Zürich gezogen und wohnt heute dort in einer WG.

Burak mag Kebabs, die auch in «Beyto» eine Rolle spielen. Foto: Gian Marco Castelberg
In seiner Freizeit treibt der begeisterte Crossfitter viel Sport und ist regelmässig mit seinen Freunden unterwegs. Was er sonst noch mag? Lieder von Mani Matter, guten, teuren Kaffee – und Kebabs: «zwei bis drei pro Woche müssen sein».
Von seiner Freundin ist Burak inzwischen getrennt, eine neue hat er nicht. «Will ich ehrlich gesagt auch nicht. Eine Beziehung braucht Zeit und Aufmerksamkeit, und ich bin gerade ganz auf meine Karriere fokussiert.»
Er möchte als Schauspieler in der Schweiz Fuss fassen – und dann in einer ähnlichen Liga spielen wie seine Vorbilder Max Hubacher, Joel Basman oder Dimitri Stapfer. Inzwischen hat er an einigen weiteren Castings teilgenommen. Spruchreif ist noch nichts, aber in «Beyto» hat Burak eine Performance hingelegt, die ihm bestimmt weitere Türen öffnen wird.
Foto/Bühne: Gian Marco Castelberg
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