Generation freudlos
Erschienen
16.05.2022

Junge Menschen haben zunehmend Mühe, sich zu freuen. Selbst nach den grössten persönlichen Erfolgen zucken sie bloss mit den Schultern, statt in Jubel auszubrechen. Woran das liegt, erklären Generationenforscher und Psychologinnen.
Skistar Marco Odermatt krönte am 13. März seine Saison mit dem Sieg im Gesamtweltcup. Während Roger Federer nach Triumphen Glückstränen über das Gesicht kullerten oder Didier Cuche seine Ski in der Luft Saltos schlagen liess und abknutschte, sagte der 24-jährige Odermatt nach dem entscheidenden Rennen: «Ich verspüre keine grossen Emotionen.» Am Höhepunkt seiner bisherigen Karriere angekommen, empfindet der Jungstar kaum Freude.
Generationenforscher Rüdiger Maas verwundert das nicht. Odermatt, so der Experte, gehöre einer Generation an, die generell Mühe damit habe, sich zu freuen.
Ungesunde Vergleiche
«Das liegt daran, dass die Jugendlichen und unter 30-Jährigen durch Inhalte im Internet emotional komplett übersättigt sind», erklärt Maas, der am Institut für Generationenforschung in Augsburg (D) forscht. Auf Social Media sehe man ständig die Highlights aus dem Leben seiner Mitmenschen und relativiere so die eigenen Erfolge. Da reihen sich dann Fotos von Besuchen in Sternerestaurants an solche von kulinarischen Eigenkreationen, die problemlos in Hochglanzmagazinen abgedruckt werden könnten. Die eigenen Spaghetti Carbonara sind im Vergleich dazu nichts Spezielles mehr.
Dieses konstante Vergleichen mit anderen hemmt laut Maas die Fähigkeit, sich über Erfolge zu freuen. «Die älteren Generationen haben sich mit Verwandten, Freunden oder Bekannten aus ihrer unmittelbaren Umgebung verglichen, da konnte man schnell mal der Beste sein», sagt Maas. Die Millennials hingegen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, vergleichen sich über Social Media mit der halben Welt. Und sehen: Sie sind weder die Ersten noch die Besten.
Tipps für mehr Freude
- Sich immer mit den Besten aus der digitalen Welt zu vergleichen, schadet dem eigenen Selbstwertgefühl. Stattdessen sollte man sich mit dem oder der Nächstbesten aus dem eigenen Umfeld vergleichen.
- Statt auf Lob von anderen zu warten, sollte man sich bewusst machen, was man an sich selbst wertschätzt.
- Der eigene Antrieb gilt als Schlüssel zum Glück. Glück entsteht durch Arbeit an Dingen oder für Personen, die uns wichtig sind.
- Ob jemand Luftsprünge macht oder bloss lächelt, wenn er oder sie sich freut, hängt von den Genen und dem Umfeld ab. Nur weil jemand nicht auf Knopfdruck in Jubel ausbricht, heisst das nicht, dass er oder sie sich nicht freut. Das Problem liegt da eher an der Erwartungshaltung des Publikums, das Gefühlsexplosionen erwartet.
Erfolg wird einfach erwartet
Lars Keller* hat 2020 als Erster in seiner Familie ein Bachelorstudium abgeschlossen. Gross darüber gefreut hat sich der 28-Jährige nicht. «Heute hat praktisch jeder studiert, und von meinen Mitstudierenden haben fast alle bestanden», sagt er. Bei den heute über 55-Jährigen waren Hochschulabschlüsse noch selten. Bei den unter 35-Jährigen hingegen hat fast jede und jeder Zweite einen Bachelor oder Master. Tendenz steigend. Darum hat Keller von sich erwartet, dass er seine Abschlussprüfungen besteht. Schliesslich hat er dafür gelernt.
Ähnliches gilt für Marco Odermatt, so Generationenforscher Maas. Sein Erfolg kam nicht unerwartet. Er besuchte die Sportmittelschule, fährt seit über zehn Jahren Rennen und trainiert, um erfolgreich zu sein. «Als Profisportler ist er nicht mit uns vergleichbar. Er hat eine andere Erwartungshaltung an sich als wir Normalsterblichen. Für uns würde der Erfolg aus dem Nichts kommen, er würde uns überraschen, wir würden ausrasten. Odermatt dagegen hat damit gerechnet und bleibt cool.»
Keine Verschnaufpausen
«Als grosser Skifan war ich nach dem Gesamtweltcupsieg auch überrascht über Odermatts Reaktion», sagt André Schmidt. «Ich denke aber, dass er beim Interview noch im Tunnel war, so fokussiert, dass er sich noch nicht freuen konnte.» Schmidt ist Neurowissenschaftler an der Universität Basel und hat mit seinem Team herausgefunden, dass Freudlosigkeit im Gehirn sichtbar ist. Spitzensportler seien nicht generell vergleichbar mit Normalbürgern der gleichen Generation. Was die beiden Gruppen eint, ist ihre Geisteshaltung. Sie sind getrieben vom Gedanken: Was kommt als Nächstes? Den um die Jahrtausendwende Geborenen stünden so viele Möglichkeiten offen wie keiner Generation zuvor. «Dadurch ist bei ihnen die Angst, sich falsch zu entscheiden, stärker ausgeprägt», sagt Schmidt. Und dabei würden im Hinterkopf bereits die Gedanken an die nächste Saison, den übernächsten Schritt laufen.
Dominik Kunz* kann ein Lied davon singen. Er hat es vor einem Jahr mit 25 ins mittlere Management einer Pharmazulieferungsfirma geschafft und zerbricht sich bereits den Kopf über den nächsten Karriereschritt und ob er dafür noch studieren gehen soll. «Es muss irgendwie immer weitergehen. Ständig denke ich, wenn ich das geschafft habe, wird meine Freude riesig sein. Doch dann steht bereits der nächste Schritt an.»
Hast du eine Lehrstelle gefunden, musst du Leistung bringen, um die Abschlussprüfung zu bestehen. Nach der Abschlussprüfung kommt das Militär. Ist das vorbei, muss du sofort wieder Fuss fassen in der Arbeitswelt. Überzeugst du mit deinen Leistungen, wirst du befördert. Kaum befördert, sagen dir Vorgesetzte, dass du ohne Masterabschluss nicht weiter aufsteigen kannst. So umschreibt der 26-Jährige das Hamsterrad, das kaum Raum für Freude zulässt.

Jugendliche sind durch Inhalte im Internet emotional übersättigt.
Rüdiger Maas Generationenforscher
Innehalten und Spass haben
«Es gibt keinen Erfolg, keinen Status, der dauerhaftes Glück erzeugt», sagt Udine Lang, Professorin für Psychotherapie an der Universität Basel. Pausen einlegen, um das Erlebte einordnen zu können, sei dabei wichtig. Entscheidend sei auch, immer wieder Dinge zu tun, die einem Spass bereiten. Sei das, jemandem zu helfen, Zeit in der Natur zu verbringen oder sich um die Familie zu kümmern. «Wir müssen uns mit Dingen beschäftigen, die uns wichtig sind», sagt Lang. Jeder brauche einen eigenen Wertekompass, dem er folgen könne. Wer diesen aus den Augen verliert, könne sich nicht richtig über Erfolge freuen, die nicht zum Gesamtplan passen. Wer sich jedoch vergewissert, was für sie oder ihn wichtig ist, könne wieder lernen, sich zu freuen. «Seinen wahren Interessen zu folgen hilft, mehr Freude zu empfinden.»
Loben ist gefährlich
Neben dem Internet sieht Generationenforscher Maas vor allem die Erziehung am Ursprung der Freudlosigkeit. «Die jüngsten Generationen bekommen während ihrer Kindheit viel zu viel positives Feedback», sagt Maas. Dadurch freue sie sich mehr über Lob als über die eigene Leistung, mehr über die Likes für das Bild an der Diplomfeier als über die bestandenen Abschlussprüfungen.
Zufriedenstellender wäre, wenn sich Kinder aus eigenem Antrieb motivieren könnten, Leistungen zu bringen. Denn Lob nütze sich mit der Zeit ab. Das 100. Kompliment löse nicht mehr gleich viele Glücksgefühle aus wie das erste. Kritik hingegen halle lange nach, weil Negatives für Millennials selten und dadurch fremd geworden sei. «Deswegen fehlt ihnen eine gewisse Resilienz. Negative Nachrichten werfen die jüngeren Generationen deshalb viel stärker aus der Bahn als die älteren», sagt Maas.
Sich hin und wieder bewusst vom Weltgeschehen abzukapseln und auf sein näheres Umfeld zu konzentrieren, könne helfen, damit umzugehen. Genau das tut jetzt auch Marco Odermatt. Nach sechs Monaten im Wettkampfmodus, unzähligen Medien- und Sponsorenterminen freue er sich auf Ferien und darauf, sich da zu erholen, erklärte er bei Saisonschluss.
Illustrationen: Till Lauer
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