Einsamkeit – Die grosse Leere

Sie stehen mitten im Leben und fühlen sich dennoch alleine: Vier Betroffene erzählen, wie sie mit ihrer Einsamkeit umgehen. Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, erklärt zudem, warum es so wichtig ist, diese Volkskrankheit zu bekämpfen.
Eigentlich hat Ivan Engler alles, um glücklich zu sein. Er ist ein gut aussehender Regisseur und lebt in einer liebevollen Beziehung, eingebettet in ein grosses, soziales Umfeld. An Bestätigung von aussen mangelt es dem Winterthurer nicht. Und doch gibt es diese Momente, in denen das alles keine Rolle spielt.
«Ich zweifle oft an mir. Ich fühle mich alleine und hinterfrage alles. Habe ich noch Freunde? Habe ich Lust auf sie? Was haben sie mir zu sagen? Finden sie mich gut? In diesen Momenten verspüre ich viel Angst», bekennt der 49-Jährige. Die kalten Corona-Tage führten dann dazu, dass er im Herbst Anzeichen einer Depression entwickelte: «Ich habe manchmal am Morgen geweint.»
Dabei ist die Einsamkeit für Engler aber auch Verbündete und Muse: «Nur wenn ich den Raum für mich habe, kann ich schreiben. In der Einsamkeit entstehen meine Figuren, die dann zu meiner Gesellschaft werden.» Und doch ist dieses nagende, kalte, leere Gefühl manchmal schwer zu ertragen. «In Zeiten, in denen wir virtuell derart vernetzt sind, wird das Gefühl zwar oft wegillusioniert – mit einer Scheinbestätigung durch Likes. Doch all das ist nicht echt.»
Ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich oft allein
Ivan Engler ist der Einzige, der hier mit Namen hinstehen will. Das Stigma der Einsamkeit ist noch immer gross: Es sind die «Verlierer», die sich einsam fühlen. Die, die keine Freunde haben und nicht dazugehören – so das Vorurteil. Studien jedoch zeigen: Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung fühlt sich oft alleine. Dieses Gefühl ist nicht leicht zu überwinden. «Dazu braucht es die Empathie anderer Menschen», sagt der Winterthurer. «Oder einen Anker; für viele ist es Religion, ein Spaziergang in der Natur oder ein Haustier.»
Engler bezeichnet sich als Macher. Wenn er sich nicht gut fühlt, dann backt er einen Kuchen und fragt auf Facebook, ob sich jemand ein Stück davon abholen möchte. «Indem ich die Einsamkeit der anderen lindere, lindere ich meine eigene. Seine Angst zu teilen, kann helfen.»
«Ich habe mich lange Zeit gequält und dachte, ich sei alleine mit meinen Gefühlen», erzählt auch Y. S. aus Schaffhausen. Schon als Teenager fühlte sich der 23-Jährige oft einsam. «Ich konnte dies aber gegenüber meinem Umfeld nicht ansprechen.» Erst als eine Kollegin ihm gegenüber ähnliche Gefühle eingestand, realisierte er, dass er nicht alleine ist. «In diesem Moment habe ich auch erkannt, dass ich etwas ändern kann.»
Zusammen mit einer Psychologin konnte Y. S. einen gesunden Umgang mit seinen Emotionen finden. Es fing damit an, das Gefühl zu ergründen: «Ich war ein Nachzügler, alles hat sich immer um mich gedreht. Ich erhielt so viel Aufmerksamkeit und Liebe, dass ich nicht lernen musste, mir selbst zu genügen.» Während er sich früher gegen die Einsamkeit sträubte, kann er das Gefühl heute auch zulassen.
In einem zweiten Therapieschritt lernte er Bewältigungsstrategien: «Abends halte ich jeweils die schönen Erlebnisse des Tages fest. Ich frage mich, was mir Freude gemacht und mich gestärkt hat.»
Darüber schlafen hilft oft
In diesen Momenten werde ihm bewusst, dass sich die Einsamkeit vor allem in seinem Kopf abspielt: «Es hilft, objektiv zu bleiben. Ich denke dann daran, dass ich Eltern habe, die für mich da sind. Dass ich Kollegen in der Nähe habe, bei denen ich vorbeigehen kann. Und dass ich es mir ausgesucht habe, alleine zu wohnen.»
Wenn alles nichts bringt, dann hilft es, darüber zu schlafen: «Am nächsten Tag sieht meist alles schon besser aus. Wenn ich ausgeruht bin, bin ich weniger anfällig für negative Gefühle.»
Ob ein Partner helfen würde? «Ich habe lange geglaubt, dass die schlechten Gefühle weggehen, wenn man-einen Partner hat. Aber auch in einer Beziehung kann man sich sehr einsam fühlen.»
Angebote gegen die Einsamkeit
Das Migros-Kulturprozent fördert das Miteinander: Es bringt Menschen aus der gleichen Region zum geselligen Kochen oder Geschichtenerzählen zusammen und ermöglicht Museumsbesuche zu zweit.
Tavolata: Über 500 Gruppen in der ganzen Schweiz treffen sich regelmässig zum gemeinsamen Kochen und Essen. Viele bieten ein Gastessen an und sind offen für neue Mitglieder. Einfach eine Tavolata in der Region kontaktieren.
Ein Erzählcafé ist eine gute Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe tauscht sich über Erlebnisse und Erinnerungen aus dem Leben aus. Jede Geschichte wird gehört!
Tandem im Museum (TiM) richtet sich an alle, die gern ins Museum gehen – und das lieber zu zweit. Wer Lust hat, kontaktiert einen von 35 TiM-Guides in der ganzen Schweiz.
Via conTAKT-museum.ch treten Frauen und Männer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt. Bei einem gemeinsamen Museumsbesuch lernen sich so Menschen aus verschiedenen Kulturen kennen und verstehen.
An den Veranstaltungen gelten Corona-Schutzkonzepte wie Maskentragen oder Einschränkungen der Personenanzahl.
Gemeinsam einsam. Dieses Gefühl kennt C. W. aus Zürich: Die 25-jährige Studentin ist als Lehrerin tätig und lebt in einer langjährigen Beziehung. Sie ist den ganzen Tag unter Leuten und somit alles andere als alleine. Und doch ist es genau dieses Gefühl, das sich bei ihr einschleicht. «Es gibt Tage, an denen ich weine wie ein Kleinkind.»
Ihre Einsamkeit entsteht, wenn sie sich unverstanden fühlt: «Wenn ich den Eindruck habe, mein Gegenüber begreift meine Sorgen oder Ängste nicht, fühle ich mich, als wäre ich falsch. Das ist wie ein Stich ins Herz», erzählt die 25-Jährige.
Obschon in diesen Momenten alles emotional ist, verspürt sie eine grosse Leere und zieht sich zurück. Als Kind habe ihr diese Situation den Boden unter den Füssen weggezogen, heute kann sie diese Gefühle besser filtern: «Auf der Arbeit geht das gut, aber in Beziehungen finde ich es immer noch schwierig. Dass mir Dinge nahgehen, möchte ich eben auch nicht verlieren.»
Das Gefühl der Einsamkeit anzunehmen und darüber zu reden, findet sie schwierig. «Aber durch das Schweigen wächst die Einsamkeit. Es ist ein Teufelskreis.» C. W. wünscht sich, dass psychische Gesundheit vermehrt gesellschaftlich thematisiert wird. «Sie ist so wichtig dafür, dass es uns gut geht. Gerade jetzt während Corona wird das sichtbar: Soziale Kontakte erhalten auch unsere psychische Gesundheit.»
Zudem wünscht sie sich mehr Verbundenheit: «In der Familie und im Freundeskreis pflegt man enge Beziehungen, doch das hört leider schon in der Nachbarschaft auf.» Eines ist nämlich klar: Auch die Nachbarn von gegenüber fühlen sich bestimmt ab und zu alleine.
«Für mich wirkt die Zeit, die ich allein verbringe, wie verloren. Ich kann mich nicht aufraffen, mal etwas für mich zu kochen – oder ein Wochenende ohne Gesellschaft zu geniessen», erzählt O. S. aus Zürich. «Ohne Begleitung an ein Konzert zu gehen, hat ein Stigma. Aha, du hast niemanden gefunden? Keine Freunde? Allein zu sein, wird extrem negativ angesehen», sagt der 27-Jährige.
Kleine Schritte zählen
Auch er ist in einer Beziehung und beruflich erfolgreich. Dass er in einer Stadt voller Menschen lebt, sieht er nicht unbedingt als Vorteil: «Oft hat man das Gefühl, etwas zu verpassen. Vor zwei Wochen wollte ich mir ein ruhiges Wochenende gönnen und verbrachte einen Samstagabend alleine. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen soll.» Plötzlich wurde alles langsam. «Ich wurde rastlos, gleichzeitig aber auch passiv», beschreibt er das Gefühl.
In solchen Momenten seien es kleine Schritte, die zählten: «Zum Beispiel sich eben doch aufzuraffen und etwas Feines zu kochen.» Einzusehen, dass es okay ist, Dinge auch alleine zu machen, ist für ihn ein Prozess, der noch andauert. «Es hat mir geholfen zu akzeptieren, dass ich noch nicht an dem Punkt bin, an dem ich sein möchte. Und dass es okay ist, sich dafür Zeit zu geben.»

Roger Staub (63) ist Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana
«So ungesund wie Alkohol, Rauchen und Übergewicht kombiniert»
Roger Staub, jede dritte Person in der Schweiz fühlt sich manchmal oder oft allein, besonders betroffen sind junge, alte und eingewanderte Menschen. Das klingt nach viel …
… das finden wir auch. Umso mehr, als die Schweiz eines der reichsten und glücklichsten Länder der Welt ist. Und wer unter Einsamkeit leidet, hat eine um zehn bis 20 Jahre tiefere Lebenserwartung. Einsam zu sein ist so schlecht für die Gesundheit wie Alkohol, Rauchen und Übergewicht kombiniert.
Wieso gibt es so viele Einsame?
Ihre Zahl hat in den letzten Jahrzehnten klar zugenommen. Ein wichtiger Grund ist unsere Leistungsgesellschaft: Nur wer einen Job hat, gehört dazu – entweder man performt oder man ist ein Schwächling. Junge, Alte, Migranten oder Randständige können sich da schnel einsam fühlen. Ebenfalls nicht hilfreich sind der wachsende Individualismus und der Trend zur Selbstverwirklichung; dies stärkt den Egoismus – was einerseits einsam machen kann, andererseits Empathie für andere reduziert. Auch leben in der Schweiz rund 1,3 Millionen Menschen in einem Einpersonenhaushalt, Tendenz steigend. Dadurch erhöht sich das Risiko zu vereinsamen, wenn soziale Kontakte fehlen oder durch äussere Umstände erschwert werden.
Hat Corona das Problem verstärkt?
Ohne Frage. Einige separieren sich, weil sie tatsächlich Angst vor dem -Virus haben. Andere nehmen die Kommunikation der Behörden zu ernst: «social distancing» und «Bleiben Sie zu Hause!». Viele befolgten das und vereinsamten, dabei geht es doch nur darum, Menschenansammlungen zu vermeiden und Abstand zu halten.
Fühlen sich ohnehin schon Einsame dafür etwas besser, weil nun mehr Menschen im gleichen Boot sitzen?
Nach dem Motto «Geteiltes Leid ist halbes Leid»? Ich glaube eher nicht. Aber es gibt gewisse positive psychische Effekte: Niemand muss sich sorgen, etwas Aufregendes zu verpassen, weil schlicht nichts los ist. Man kann also friedlich zu Hause bleiben und ein Buch lesen.
Erleichtert Corona den Einsamen gar die Adventszeit?
Vielleicht ist sie dieses Jahr für einige erträglicher, weil auch die meisten anderen sich nicht wie gewohnt mit Familie und Freunden treffen können. Doch die dunklen, kalten Monate schlagen auch sonst vielen aufs Gemüt. Das beste Weihnachtsgeschenk dieses Jahr ist, auf Menschen zuzugehen, denen es nicht gut geht. Gerade den Einsamen hilft es, wenn man sie anspricht und sich für sie interessiert.
Auch Menschen, die mitten im Leben stehen, fühlen sich ab und zu einsam. Woher kommt das?
Wer glaubt, er bekomme nicht die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die er verdient, kann sich einsam fühlen. Oder wer sich mit seinen Meinungen und Gefühlen unverstanden glaubt. Ganz entscheidend scheint mir Selbstliebe – je mehr man sich selbst lieben kann, desto psychisch stabiler ist man.
Was kann man tun, wenn man sich einsam fühlt?
Sich aufraffen und jemanden kontaktieren, aus der Familie, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis. Wenn man gar niemanden hat, empfiehlt sich eine Selbsthilfegruppe oder eine psychologische Beratung. Vereine oder andere Treffpunkte zu besuchen, kann hart sein, weil es eine grosse Hürde ist, allein an einen Ort zu gehen, wo sich alle anderen kennen. Aber vielleicht findet man jemanden, der einen mitnimmt.
Was könnte die Gesellschaft besser machen?
Sie könnte Integration und Inklusion fördern, etwa mit Mehrgenerationenhäusern oder indem Altersheime nicht am Stadtrand gebaut werden, sondern mittendrin. Als Gegenmodell zur Selbstverwirklichung könnte man das soziale Zusammenleben stärken. Allein glücklich zu werden, ist schwierig, auch wenn man sich noch so erfolg-reich verwirklicht hat. Gemeinsam ist es besser und lustiger.
Pro Mente Sana bietet Beratung unter Tel. 0848 800 858 sowie auf promentesana.ch. Unterstützung gibt es auch bei inclousiv.ch.
Foto/Bühne: Mali Lazell
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